Schwäbische Zeitung (Biberach)
Eine Welt aus sechs Punkten
Für viele blinde Menschen ist die Brailleschrift ein Schlüssel zum Wissen
PARIS (dpa) - In Fahrstühlen und auf Medikamentenverpackungen sind die kleinen Symbole aus hervorstehenden Punkten häufig zu sehen. Für viele blinde Menschen sind sie ein Schlüssel zum Wissen der Welt: In Zeichen aus bis zu sechs Punkten, angeordnet wie die Sechs auf einem Würfel, macht die Brailleschrift das Alphabet fühlbar. Die Punktschrift wurde vor fast 200 Jahren erfunden und ist auch im digitalen Zeitalter noch unverzichtbar. Der WeltBraille-Tag am 4. Januar erinnert an den Geburtstag ihres französischen Erfinders Louis Braille.
Die Weltblindenunion warnt zu diesem Anlass davor, die BrailleSchrift mit Blick auf neue Errungenschaften zu vernachlässigen. In einer Mitteilung äußert der Verband die Sorge, dass es weniger Unterstützung für Unterricht und Nutzung der Punktschrift geben könnte „aufgrund des Glaubens, dass Technologien wie E-Books, Hörbücher und Screen-Reader Braille ersetzen könnten“.
Smartphones haben Grenzen
Tatsächlich bietet die heutige Medienwelt auch für Blinde viele neue Möglichkeiten. Hörbücher sind viel breiter verfügbar als früher, Computer und Smartphones können Texte vorlesen. Doch das kann die Brailleschrift aus Sicht von Professor Thomas Kahlisch nicht ersetzen: „Die ist eigentlich alternativlos“, sagt der Leiter der Deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig, der auch im Präsidium des Deutschen Blindenund Sehbehindertenverbands sitzt. „Das ist die einzige Form, mir als blinder Mensch Schrift anzueignen.“
Natürlich sei es für Blinde sehr praktisch, etwa Diktierfunktionen am Smartphone nutzen zu können. Doch diese Technik habe auch Grenzen. „Da rollen sich einem die Fußnägel hoch, was die Leute so wegschicken“, sagt er mit Blick auf Missverständnisse und Rechtschreibfehler. „Das funktioniert im Berufsleben nicht.“Lesekompetenz sei ein Eckpfeiler der Bildung – und für Blinde damit ebenso wichtig wie für Sehende, heißt es bei der Weltblindenunion.
Wie viele Menschen Braille lesen können, dazu gibt es keine verlässlichen Angaben – schon zur Zahl der Blinden und Sehbehinderten in Deutschland liegen nur Schätzungen vor. Gerade junge Menschen könnten in recht kurzer Zeit Braille lernen, sagt Kahlisch. Menschen, die erst im Alter ihre Sehkraft verlieren, tun sich dagegen oft schwerer. Wer das System beherrscht, kann damit heute mithilfe einer sogenannten Braillezeile auch am Computer arbeiten oder das Smartphone nutzen. Wer als Blinder Braille beherrscht, hat damit deutlich bessere Chancen auf einen Job.
Brailleschrift auf Pizzaschachteln
„Es gibt viele Potenziale“, sagt Kahlisch mit Blick auf die Verbindung von Braille und moderner Technik. So könne man sich vom Handy navigieren lassen, mit einer SupermarktApp einkaufen oder mit einer BankApp ein Konto führen. „Aber das geht auch mit einer gewissen Abhängigkeit von den Geräten einher.“Zudem gibt es neue Schwierigkeiten – etwa, wenn Softwareentwickler nicht wissen, wie sie eine App gestalten müssen, damit sie auch von Blinden genutzt werden kann. „Die ganzen Vorzüge der digitalen Welt sind nur dann nutzbar, wenn sie barrierefrei sind.“Kahlisch wünscht sich noch mehr Braille im Alltag, etwa auf Pizzaverpackungen. „Da müssen wir viel tun, auch Überzeugungsarbeit leisten.“
Louis Braille selbst erlebte den internationalen Siegeszug seiner Schrift übrigens nicht mehr, er starb 1852 im Alter von 43 Jahren an Tuberkulose. Erst Jahrzehnte später wurde das Sechs-Punkte-Alphabet 1878 bei einem internationalen Kongress als bestes System anerkannt. Seine Gebeine liegen im Pariser Pantheon.