Schwäbische Zeitung (Biberach)
Müller am rauschenden Bach
Gerd Graf betreibt eine Mühle, in der die Zeit vor 100 Jahren stehen geblieben ist
Zumindest die ältere Generation dürfte das Volkslied von der klappernden Mühle am rauschenden Bach noch kennen. Es ist ein Lobgesang auf den Berufsstand der Müller. Gerd Graf zählt dazu. Mit dem Verweis auf den Liedtext will der stämmig gebaute 56-Jährige unbedingt zeigen, weshalb die Mühle klappert. In diesem Fall ist es seine eigene. Sie steht am Ortsrand von Tannheim, einem Dorf unweit von Memmingen. Dinkelmühle wird sie genannt. Ihr Klappern kommt aus einer Ecke mit Gerätschaften, die ein Laie auf den ersten Blick kaum identifizieren kann. „Der hölzerne Rüttelschuh ist die Ursache“, löst Graf schließlich das Rätsel auf. Eine dreizackige Getriebewelle lässt ihn hin und her fahren, damit Getreide dosiert zwischen die Mühlsteine fällt.
Graf macht es diebisch Spaß, Unwissende in die Geheimnisse der Müllerei einzuweihen. Würde dies nun in einem modernen HightechBetrieb mit digitaler Anlagensteuerung geschehen, wäre der Charme der Unterweisung begrenzt. Graf betreibt das Geschäft aber wie anno dazumal, als man überall an den Bächen oder Flüssen noch wusste: „Flink laufen die Räder und drehen den Stein“– auch eine Passage aus dem traditionellen Müllerlied.
Fast scheint es, als sei in der Dinkelmühle die Zeit stehen geblieben. Dem Augenschein nach könnte dies gewesen sein, als Württemberg noch ein Königreich war – vor gut 100 Jahren also. Seinerzeit war es auch zur letzten Innovation gekommen. Grafs Urgroßvater ließ zusätzlich Walzenstühle einbauen. Bei ihnen zerkleinern rotierende Metallzylinder das Getreide. In moderner Form sind solche Walzenstühle in Industriemühlen Standard. Dort dient aber Strom zum Antrieb. Bei Graf ist es noch das Wasserrad im Mühlbach. Es besteht aus zusammengenieteten Eisenteilen. Sieben Meter Durchmesser hat die Konstruktion. Seit 1884 ersetzt sie vier hölzerne Wasserräder. „Noch richtig zusammengenietet“, bemerkt Graf sichtlich stolz.
Noch älter sind die Anlagen, in denen sich die Mühlsteine drehen. Sie gehen ins 18. Jahrhundert zurück. An Wellen und Riemenscheiben platzierte Lederriemen übertragen die Kraft des Wasserrads. Sie sorgen unablässig für ein surrendes Geräusch in der Mühle. Fällt Sonnenlicht durch die Sprossenfenster, ist das Schweben von Mehlstaub in der Luft zu erkennen. Ein wenig davon legt sich immer wieder auf Dielen und Gebälk des Mühlgebäudes, das aufs Jahr 1610 datiert. Wobei der Mühlenstandort weitaus älter ist. Graf verweist stolz auf eine Urkunde des Klosters Ochsenhausen. Sie stammt aus dem Jahr 1100 und erwähnt eine Mühle. „Reste könnten in den Grundmauern noch vorhanden sein“, erzählt der Müller.
Er wird unterbrochen. Die Türglocke zum kleinen Mühlenladen schellt. Kundschaft. „Fünf Kilo Dinkelmehl“, verlangt eine Frau. Graf kennt sie – so wie die meisten seiner Kunden. „Wie geht’s der Familie?“, fragt er nach. „Gut? Dann ist es recht.“Die Frau nimmt ihr Mehl, geht. Graf wiederum verschwindet zwischen den Gerätschaften der Mühle, bewegt energisch Hebel, stellt Säcke parat. Auf einen erstmaligen Besucher wirkt dies alles fast wie der Betrieb einer musealen Schaumühle. Der Eindruck ist jedoch verkehrt. Graf bewirtschaftet seine Mühle im Vollerwerb. Täglich mahlt er rund eine halbe Tonne Getreide. Die durchschnittliche Industriekonkurrenz kommt auf 100 bis 150 Tonnen. Die ganz großen Betriebe erreichen noch viel mehr.
Hat man ein Bild solcher Industrie-Mühlen im Kopf, wirkt Graf wie jemand von vorgestern, der die Mühen vergangener Zeiten auf sich nimmt. Der Mann könnte es einfacher haben. Er will aber nicht: „Hier in meiner Mühle sind die Abläufe noch erkennbar. Es ist richtiges Handwerk. Ich schaffe die Voraussetzung für das tägliche Brot.“Seine Verbundenheit mit der Mühle geht aber tiefer. Sie wird seit fünf Generationen von den Grafs betrieben. „Dass ich das Geschäft weiterbetreibe, hat auch etwas mit der Achtung vor meinen Vorfahren zu tun“, erklärt der Müller.
Dass Graf mal die Mühle übernehmen würde, war ihm nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Von vier Brüdern ist er nur der Zweitälteste. Nach alter Väter Sitte hätte der Erstgeborene die Mühle samt der angeschlossenen Landwirtschaft übernehmen sollen. Dem war jedoch nach Studieren zumute gewesen. Womit der Zweitälteste am Zuge war. „Meine Eltern sagten einfach: Dann machst du das eben jetzt“, erinnert sich Graf. Ein großer Schritt sei dies aber nicht gewesen: „Wir waren als Kinder immer im Betrieb mit dabei. Da wächst man einfach in das Geschäft hinein.“
Gegenwärtig muss sich Graf neben der Mühle noch um Getreideund Kleefelder kümmern. Zudem hält er knapp 50 Schweine. Nur Milchvieh ist keines mehr da. „Seit fünf Jahren“, sagt Graf. Damals hat ihn auf einmal die Arbeit hoch oben im Heuboden ins Grübeln gebracht. Ein Absturz von dort oben runter in den Stall – und alles wäre aus, waren seine Gedanken. Es ging ihm dabei um die Familie. Sie sollte nicht alleine zurückbleiben. Fünf Kinder zieht er mit seiner Frau Ines groß. Praktischerweise ist das Wohnhaus direkt an die Mühle angebaut. Nur ein paar Schritte sind es vom zeitgemäßen Wohnen mit moderner Technik bis zur althergebrachten Müllerei.
Es wäre jedoch ein Fehler, die Graf’sche Welt auf diesen Radius zu begrenzen. Der Mann hat offenbar reichlich Energie. So ist er neben Lutz Herbst Mitinitiator der 2005 gegründeten Oberschwäbischen Mühlenstraße. Graf verfasst Heimatbücher, geht zum Jagen, macht Musik. Seit einiger Zeit treibt ihn die Nutzung der Wasserkraft zur Stromgewinnung um – naheliegend in seinem Fall. „Ich kann die Mühle vom Wasserrad abkoppeln“, erklärt er. Dieses treibt dann einen Generator an. Um der jungen Generation das Prinzip deutlich zu machen, hat er den Anstoß zum Bau eines Wasserrades fürs Gymnasium Ochsenhausen gegeben.
Für ihn ist „Wasserkraft eine wirkliche ökologische Energiequelle“. Dies passt zu seiner Mühle. Prinzipiell ist dort nach seinen Erklärungen auch sonst alles „öko“. Entsprechend für einen Bio-Verband zertifizieren lassen will sich Graf jedoch nicht: „Dann würden mir völlig fremde Leute in mein Geschäft hineinreden.“Schon die Vorstellung scheint ihm unerträglich zu sein. Die Mühle ist sein Reich – und sein Leben, seine Leidenschaft. Vielleicht lässt sich ein letzter Motivationsstrang am besten mit einem weiteren Auszug aus dem alten Müller-Lied beschreiben: „... Und schenkt uns der Himmel nur immer das Brot, so sind wir geborgen und leiden nicht Not. Klipp, klapp ...“
Ich schaffe die Voraussetzung für das tägliche Brot. Gerd Graf, Müller