Schwäbische Zeitung (Biberach)
Das Schweigen der Glocken
Big Ben ist verstummt, dafür schreien britische Traditionalisten umso lauter
- Kaum war das tiefe E zum zwölften und letzten Mal erschallt, brandete Beifall auf. Klatschend ehrten Londoner und Touristen am Montagmittag kurz nach 12 Uhr eines der Wahrzeichen der Stadt: Big Ben, die grösste Glocke im Campanile des britischen Parlaments, schlug den Hauptstädtern zum vorläufig letzten Mal die Stunde. Der 13,7 Tonnen schwere Klangkörper, seine vier kleineren Geschwister sowie der 96 Meter hohe Elizabeth Tower selbst, im Volksmund nach seinem wichtigsten Stück Zubehör „Big Ben“genannt, brauchen eine dringend nötige Generalüberholung. Das Schweigen der Glocken soll mehrere Jahre währen, was Traditionalisten bis hin zu Premierministerin Theresa May in Wallung bringt.
Zu den Zuhörern auf dem Parliament Square zählte auch Steve Jaggs. Gleich nach dem symbolträchtigen Moment gingen der Ingenieur mit dem schönen Titel „Bewahrer der großen Uhr“(keeper of the great clock) und seine Leute ans Werk, Schlagwerk und Uhrwerk voneinander zu trennen.
Die Zeiger arbeiten weiter
Die Gewichte, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für das weitgehend reibungslose Funktionieren der Uhr gesorgt haben, wurden durch den Schacht zum Boden des Turms herabgelassen. Die Uhr am Turm wird fortan geräuschlos weiter die Zeit anzeigen, getrieben von einem profanen Elektromotor.
Die Renovierung des Big Ben soll mit der Reparatur des gußeisernen Daches beginnen; unter die Lupe genommen wird auch das sogenannte Ayrton-Licht, das durch seinen Schein seit 1885 anzeigt, ob sich das Parlament in einer Sitzung befindet. Erst dann kommt Jaggs’ Schützling an die Reihe: Jedes Einzelteil der großen Uhr erhält eine genaue Prüfung und liebevolle Restaurierung, die Zifferblätter werden geputzt, die Zeiger erneuert. Dadurch werde die Uhr „auf lange Sicht“erhalten, beteuert ihr Betreuer. Die Glockenklänge stellten in dieser Zeit eine Gefährdung der Arbeiter dar, schließlich reicht die Hauptglocke mit ihren 118 Dezibel an startende Jets oder überlaute Rockkonzerte heran.
Muß das Schweigen aber Jahre lang dauern? Das könne doch gar nicht sein, ließ sich die gerade erst aus dem Urlaub zurückgekehrte Regierungschefin vernehmen. Wo doch Big Ben seit 157 Jahren ein „Symbol der Stabilität“sei, wie der wichtigtuerische Labour-Hinterbänkler Steve Pound eifrigen Boulevardjournalisten in den Block diktierte: Selbst im Zweiten Weltkrieg habe sie unbeirrt weitergeschlagen, „aber der Arbeitsschutz bringt sie zum Schweigen!“
Dringend nötige Renovierungsarbeiten gab es natürlich auch früher schon, und natürlich wurde Big Ben dafür zeitweilig abgestellt, zuletzt Mitte der 80er-Jahre. Die diesjährige Aufregung um den Vorgang ist drei Faktoren geschuldet: Erstens soll die Zwangspause für eine der berühmtesten Glocken der Welt diesmal bis zu vier Jahre dauern. Zweitens gibt es derzeit wenig Aufregerthemen, noch herrscht in London nämlich Ferienruhe. Und drittens sorgt der allgegenwärtige Brexit für besondere Sensibilität gegenüber allem, was als Bedrohung für die hergebrachte, von Traditionen bestimmte Lebensweise angesehen werden könnte.
Das gilt fürs Parlament an der Themse vielleicht in besonderem Maße. Big Ben ist schließlich nur ein Teil davon, wenn auch der bekannteste. Als Gesamtheit gehört es zu den berühmtesten Gebäuden der Welt, geniesst den Status als UnescoWelterbe und hat jährlich eine Million Besucher, von seiner Funktion als Volksvertretung der sechstgrössten Wirtschaftsmacht der Welt einmal abgesehen.
Eine Bauruine
Aber der neugotische Riegel aus honigfarbenem Kalkstein ist auch eine Bauruine. Die 650 Unterhaus-Abgeordneten und die 805 Lords und Ladies im Oberhaus sitzen auf einem erheblichen Risiko – teils 80 Jahre alte Elektro- und Gasleitungen im Keller, marode Wasserrohre, Asbest überall. Bisher konnten sich die Volksvertreter nicht auf die eigentlich fällige Gesamtrenovierung einigen. Sie würde mindestens 3,9 Milliarden Pfund (4,27 Milliarden Euro) kosten und die Parlamentarier dazu zwingen, sich für sechs Jahre eine andere Bleibe zu suchen.
Den Ingenieuren bleibt also nichts anderes übrig, als sich geduldig mit Teilreparaturen dem Verfall entgegenzustemmen. Und komplett ruhig wird es ja nicht werden: Big Ben, das versichert Ingenieur Jaggs, werde „zu besonderen Gelegenheiten wie Neujahr“die vertrauten Schläge doch wieder live ertönen lassen.