Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Ländlich ist nicht gleich abgehängt“
Peter Mehl vom Thünen-Institut über Bürgerläden, Ärztemangel und Geld aus Europa
RAVENSBURG - Deutschland hat starke ländliche Regionen ebenso wie Landstriche, aus denen die Menschen fortziehen. Im Gespräch mit Ulrich Mendelin erläutert Forscher Peter Mehl, warum die Digitalisierung eine Chance ist, und weshalb man die Wirkung von EU-Förderprogrammen nicht überschätzen sollte.
Was genau verstehen Sie unter dem ländlichen Raum?
Den ländlichen Raum gibt es nicht, sondern ländliche Räume. Denn die Vielfalt ist groß. Die oft geäußerte Annahme, Ländlichkeit sei generell mit Rückständigkeit, mit Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Wohnungsleerstand verbunden, stimmt nicht. Je ländlicher, desto abgehängter – diese Formel ist falsch. Wir haben in unserem Institut eine Typisierung ländlicher Räume in Deutschland entwickelt, die unter anderem Siedlungsdichte, Erreichbarkeit oder den Anteil der landwirtschaftlich genutzten Fläche berücksichtigt. Danach ist der Landkreis Biberach ähnlich ländlich geprägt wie der Landkreis Salzwedel in Sachsen-Anhalt. Bei der sozioökonomischen Lage unterscheiden sie sich aber erheblich. Der wirtschaftlich stärkste ländliche Landkreis in Deutschland, Dingolfing-Landau in Niederbayern, ist sogar noch ländlicher als die Kreise Biberach und Salzwedel.
Unterscheidet sich Deutschland hier von anderen Ländern in Europa?
Definitiv. Frankreich ist ein zentralistisches Land. Großbritannien ist das auch, obwohl man in beiden Ländern seit einigen Jahren versucht, dem entgegenzusteuern. Dort ist ja die Wirtschaftskraft sehr stark auf die Großräume um Paris oder London konzentriert. In Deutschland gibt es eine Wirtschaftsstruktur mit vielen Zentren und nicht wenige unbekannte Weltmarktführer auch in ländlichen Regionen. Auch darum gilt die Formel, ländlich gleich abgehängt, hier nicht.
Die EU stellt über den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums, kurz ELER, Milliardenbeträge bereit. Dazu gehören die vielen Leader-Projekte, mit denen von der Streuobstwiese bis zum Erlebnis-Parcours alles mögliche gefördert wird. Ist es sinnvoll, auf diese Weise Geld zu verteilen?
EU-Fördermittel spielen eine deutlich kleinere Rolle als man vielleicht gemeinhin annehmen würde. Rund 0,1 Prozent der Wirtschaftsleistung der EU fließen in den ELER-Fonds. Deswegen sollten dessen Wirkungsmöglichkeiten nicht überschätzt werden. Verkehrspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Raumordnungspolitik, Gesundheitspolitik, Schulpolitik und viele andere Politikbereiche beeinflussen die Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen deutlich stärker.
Alle Parteien versprechen schnelles Internet auch auf dem Land. Geschieht genug auf diesem Gebiet?
Ohne schnelles Internet wandern Firmen und Menschen ab. Für diese Einsicht hat man in Deutschland deutlich länger gebraucht als anderswo. Mittlerweile haben sich aber die Anstrengungen deutlich intensiviert. Digitalisierung kann dem wichtigsten Standortnachteil ländlicher Räume entgegenwirken: Sie hat das Potenzial, Raumüberwindungskosten zu reduzieren.
Was heißt das?
Je besser es gelingt, Behördengänge, Bildungsveranstaltungen, Verkaufsgespräche, Teamsitzungen oder ärztliche Diagnosen in virtuellen Räumen zu erledigen, desto mehr erübrigt sich der physische Transport von Menschen in die Stadt. In Estland lassen sich beispielsweise 100 staatliche Dienstleistungen mit dem elektronischen Personalausweise von zu Hause aus am Computer erledigen.
Der physische Transport bleibt aber wichtig ...
... und auch hier bietet die Digitalisierung eine Chance. Mobilität in ländlichen Räumen ist zumeist Pkw-Mobilität – mit Ausnahme des Schülertransports. Bis ins hohe Lebensalter fahren Menschen mit dem eigenen Auto. Sonst wird es schwierig zum Arzt, zum Einkaufen oder auch zum Altennachmittag zu kommen. Dieser Nachteil ländlicher Distanzen könnte spürbar schwinden, wenn man vom autonomen Taxi ohne Taxifahrer abgeholt und anschließend wieder nach Hause gebracht wird. Bis dahin wird es sicherlich noch länger dauern, aber an vielen Teillösungen wird schon gearbeitet.
Firmen auf dem Land klagen nicht nur über fehlende Breitbandan-
schlüsse, viele tun sich auch schwer, Bewerber zu finden.
Wir haben in manchen Gegenden tatsächlich Fachkräftemangel. Das liegt auch daran, dass der Anteil junger Menschen, der zum Studieren in Universitätsstädte zieht, deutlich zugenommen hat. Wobei es immer schon ganz normal war, dass junge Menschen für ihre Ausbildung ihren Heimatort verlassen. Entscheidend ist aber, ob sie nach der Ausbildung zurückkommen wollen und können. Das Wollen hängt häufig mit der Gründung einer Familie zusammen. Familien ziehen häufiger aufs Land, auch wegen der besseren Möglichkeiten, ein Einfamilienhaus zu erwerben. Aber entscheidend ist die Frage, ob dort dann entsprechende Arbeitsplätze vorhanden sind – und zwar für beide Partner.
Allerorten schließen Nahversorger. In vielen Dörfern organisieren Bürger dann einen Dorfladen. Manche halten aber nicht lange durch. Wovon hängt ein Erfolg ab?
Eine Studie aus unserem Institut hat sich mit mehr als 100 Nahversorgungseinrichtungen in kleineren Orten befasst. Das Ergebnis: Es ist fraglich, ob die Initiativen zur Einrichtung neuer Nahversorgungspunkte eine Trendwende bewirken können. Gerade Bürgerläden sind oft nur überlebensfähig mit viel bürgerschaftlichem Engagement – das heißt, wenn man Arbeit ohne Entlohnung einsetzen kann. Das wirtschaftliche Potenzial an diesen Standorten ist häufig zu gering, und der anfängliche Enthusiasmus für den Laden kann langfristig ermüden. Für den Erfolg ausschlaggebend sind betriebswirtschaftliche Faktoren: Standort, Ortsgröße, Einzugsgebiet und auch Parkplätze. Letztlich entscheiden die Menschen vor Ort mit ihrem Einkaufsverhalten.
In vielen Orten gehen Hausärzte in den Ruhestand und finden keine Nachfolger. Welche Anreize würden wirken, um angehende Ärzte auf das Land zu locken?
Finanzielle Anreize sind ein Ansatz, aber das allein wird nicht reichen. Eine Landarztquote halte ich für sinnvoll – also Studienplätze im Bereich Medizin an Bewerber zu vergeben, die sich verpflichten, zehn Jahre in unterversorgten Regionen zu praktizieren. Bereits bewährt haben sich Gemeinschaftspraxen in öffentlicher Trägerschaft mit angestellten Ärzten, denen das finanzielle Risiko abgenommen wird und auch Aufgaben wie Abrechnungen und die Anmietung der Praxisräume. Interessante Ansätze bietet auch die Telemedizin. Im Landkreis Tuttlingen beginnt bald ein entsprechender Modellversuch. Die Schweiz oder Norwegen sind uns da um viele Jahre voraus.
Geben Sie eine Prognose ab: Wie wird der ländliche Raum in zwanzig Jahren aussehen?
Ein Megathema ist die Anpassung an den demografischen Wandel, und damit verbunden das Thema Zuwanderung. Bevölkerungsprognosen für 2035 zeigen, dass die meisten Regionen in Deutschland schrumpfen werden, teilweise in erheblichem Ausmaß. Ausnahmen sind wirtschaftsstarke Großstadtregionen wie München oder Stuttgart, aber auch für einige ländliche Regionen wird eine Zuwanderung prognostiziert – beispielsweise im Emsland oder am Bodensee. Ein weiteres Thema ist die Digitalisierung. Klar ist, dass der demografische und wirtschaftliche Wandel angesichts der Vielfalt ländlicher Räume in Deutschland unterschiedlich verlaufen wird. Politik und Gesellschaft müssen entsprechend differenzierte Antworten finden. Mit seiner föderalen Struktur und insbesondere mit seiner starken kommunalen Selbstverwaltung ist Deutschland dafür grundsätzlich besser aufgestellt als viele andere europäische Länder.