Schwäbische Zeitung (Biberach)
Erst kam der Krieg, dann kam die Cholera
Im Jemen erleidet die Bevölkerung eine humanitäre Katastrophe, die menschengemacht ist
Im Jemen sind mehr als 650 000 Menschen an der Cholera erkrankt. Die Vereinten Nationen sprechen von der aktuell größten humanitären Katastrophe der Welt – das Leiden ist eine Folge des Krieges.
Der Jemen ist das ärmste Land der arabischen Halbinsel. Seit 2013 herrscht dort Bürgerkrieg, spätestens seit 2015 ist es auch Schauplatz eines Stellvertreterkriegs der Machtblöcke im Nahen Osten. Darunter leidet die Zivilbevölkerung: Ihr fehlt es an Nahrung, Trinkwasser, Medikamenten. 17 Millionen Jemeniten sind nach den Zahlen der Vereinten Nationen von Hunger bedroht, das sind 60 Prozent der Bevölkerung.
„Viele Menschen sterben, weil sie keine Möglichkeit haben, das nächste Gesundheitszentrum zu erreichen“, sagt Liny Suharlim. Die 36-jährige gebürtige Indonesierin arbeitet im Jemen für die französische Nichtregierungsorganisation ACTED, den Partner der deutschen Welthungerhilfe. Das Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“findet per Skype statt, denn die Telefonleitung funktioniert nur unzuverlässig. Liny Suharlim beschreibt die katastrophale Lage im Land so: „Der erste Cholera-Ausbruch war im Oktober 2016 nur in einer Region. Eine landesweite Epidemie wurde daraus im April und Mai, zum Beginn der Regensaison. Das lag nur daran, dass der erste Ausbruch nicht eingedämmt werden konnte.“
Keine Chance gegen Bakterien
Der Grund dafür war der Krieg. Viele Ärzte sind verschwunden, durch den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung hatten sie seit Monaten kein Gehalt bekommen. In fast jedem fünften Bezirk im Land gibt es überhaupt keinen Arzt mehr. Verschlimmert wird die Lage noch durch den Hunger. Allein 1,7 Millionen Kinder sind nach UN-Angaben unterernährt. Durch den Mangel an Abwehrkräften sind sie leichte Opfer der Cholera-Bakterien, die extremen Durchfall und Erbrechen zur Folge haben. „Ein unterernährtes Kind hat gegen die Krankheit keine Chance“, sagt Liny Suharlim. „Es stirbt.“Umso mehr, als die Hälfte der Bevölkerung keinen sicheren Zugang zu Trinkwasser hat.
Ist die Cholera einmal ausgebrochen, führt sie unbehandelt in 20 bis 70 Prozent der Fälle zum Tod. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat seit April 2065 Cholera-Tote im Jemen registriert – die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.
Die Kriegsparteien kümmert das Leiden wenig. Immer wieder werden Zivilisten Opfer von Kampfhandlungen. Sie werden zwischen mindestens drei Kriegsparteien zerrieben. Da ist zum einen der vom Westen und den arabischen Nachbarstaaten unterstützte Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi. Er herrscht nur über einen Rumpfstaat um die Hafenstadt Aden. In der Hauptstadt Sanaa regieren hingegen die Huthi-Rebellen. Sie kommen aus dem Norden des Landes, sind schiitischen Glaubens und werden vom Iran unterstützt. Die Rebellengruppe hat sich verbündet mit Hadis Vorgänger im Präsidentenamt, Ali Abdullah Saleh. Er hatte nach mehr als drei Jahrzehnten an der Macht seinen Posten 2011 im Zuge des Arabischen Frühlings räumen müssen. Seine Allianz mit den Huthis ist nicht frei von Reibereien – als er Präsident war, waren die Rebellen noch seine Feinde. Als dritter Block kommt die Terrorgruppe al-Kaida hinzu, die das Machtvakuum ausnutzt und sich insbesondere in dünn besiedelten Wüstengegenden breitmacht.
Seit 2015 wurde immer deutlicher, dass an Arabiens Südspitze eigentlich ein Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und dem Iran mit ihren jeweiligen Verbündeten ausgefochten wird. Insbesondere die saudische Armee, die auch aus Deutschland mit Rüstungsgütern versorgt wird, fliegt immer wieder Luftangriffe. Davon spricht auch Liny Suharlim, die in der von Huthis kontrollierten Hauptstadt Sanaa lebt. Zuletzt sei es mehrere Nächte lang ruhig gewesen. „Davor wurde die Stadt aber über mehrere Wochen jede Nacht bombardiert, in einer Nacht bis zu zwölfmal“, berichtet sie. Der Flughafen der Stadt sei seit einem Jahr geschlossen, „es gibt keinen Weg hinein und hinaus“. Die einzigen, die fliegen dürfen, seien die Vereinten Nationen. Über sie können auch die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen noch in die Stadt gelangen. Andere haben dieses Glück nicht. „10 000 Menschen sind gestorben, weil sie das Land nicht verlassen konnten, um die benötigte medizinische Behandlung zu bekommen“, sagt Liny Suharlim.
Auch wenn sonst nichts mehr funktioniert in diesem Staat: Die Bürokratie ist nicht kleinzukriegen. Das spüren die Helfer, wenn im Hafen von Aden – dem einzigen im Land, der noch in Betrieb ist – beispielsweise eine Schiffsfracht mit Medikamenten ankommt. „Die Behörden brauchen sechs Monate, um eine Schiffsladung freizugeben“, berichtet Liny Suharlim. Auch der Transport über den gefährlichen Landweg ins Hinterland dauert ewig. Wenn die Medikamente dann ihr Ziel erreichen, ist das Haltbarkeitsdatum oft abgelaufen.