Schwäbische Zeitung (Biberach)
Barolo ist lang(h)e nicht alles
Die Vielfalt des Nebbiolo zeigt sich im Norden Italiens eindrucksvoll
Die Langhe. Ein Mikrokosmos aus rebenbepflanzten Hügeln und dem lebensnotwendigen Wasser des Tanaro, der sich durch diese paradiesische Landschaft im Norden Italiens oft wie gelangweilt dahinwindet. Vielleicht aus Melancholie darüber, dass er – kaum von Alessandria an endlich schiffbar werdend – dann doch wenige Kilometer nördlich in der Verschmelzung mit dem übermächtigen Fiume Po sein Ende finden wird. Melangholie eben. In dieses Meisterstück des Himmelvaters hat der Mensch trotzige Burgen und pittoreske Dörfer auf die Hügel gesetzt, deren Bewohner sich mit Haut und Haar und ganzem Herzen dem Weinbau verschrieben haben.
Nebbiolo ist die wichtigste Traube der Region, der J. Michael Broadbent, der große Weinkenner und ehemalige Director bei Christies in London, in seinem Standardwerk „prüfen – kennen – geniessen“attestiert, dass sie Anspruch auf die edelste Rotweintraube der Welt erheben könnte, wenn sie andernorts auch angebaut würde. Eine Aussage von höchstem Gewicht, deren Vorbehalt indes – unter qualitativen Aspekten – nicht unwidersprochen stehen bleiben kann. Weswegen soll es für einen Wein ein Handicap bedeuten, wenn er nur dort gedeiht, wo sein Traubengut seit Generationen und Hunderten von Jahren heimisch ist? Über den Mehrwert Bordeaux-inspirierter Weine aus aller Herren Länder lässt sich trefflich streiten. Die qualitative Betrachtungsweise darf hier nicht durch eine kommerzielle ersetzt werden. Nebbiolo aus dem Piemonte verliert nicht das Geringste seiner überragenden Eigenschaften, nur weil er etwa in Napa Valley, Mexiko oder Chile nicht mit Ergebnissen angebaut werden kann, die die Weinwelt in Entzücken versetzen würden. Die Weinfreunde können sich glücklich schätzen, dass Nebbiolo einer der letzten großen Repräsentanten einer Reihe originärer und authentischer Weine geblieben ist, die nur auf einem eng begrenzten Terroir gedeihen. Und es bleiben wird.
Dem majestätischen Barolo wurde hier bereits eine eigene Folge gewidmet. Doch Barolo ist lang(h)e nicht alles. Der in seinen besten Erscheinungsformen elegante und fein strukturierte, in der Reifephase samtige Barbaresco ist wie der Barolo nach dem Ort seiner Herkunft benannt. Sein Anbau ist auf die Orte Barbaresco, Neive, Treiso und Teile der Gemeinde Alba begrenzt. Er sei, so ist in vielen Weinführern zu lesen, der kleinere Bruder des Barolo. Nun gut. Die Wahrheit liegt ein we(i)nig tiefer. In Nebbiolo veritas.
Das Besondere an der NebbioloTraube besteht darin, dass sie auf geringfügige Unterschiede in ihrer Umwelt nachhaltig wie kaum eine andere reagiert, wie zum Beispiel auf Abweichungen in der Gesteinsart, der Beschaffenheit des Bodens und dessen chemischer Zusammensetzung, Hier hängen die Trauben ziemlich hoch: der spektakuläre Pergola-Anbau in den Carema-Weinbergen. im Mikroklima, in der Sonneneinstrahlung, der Höhe oder dem Anbau in besonders bevorzugten Einzellagen.
So können sich zwei Weine aus der Nebbiolo-Traube, die nur wenige Kilometer voneinander entfernt beheimatet sind, durch eine interessante Palette divergierender Nuancen im Bukett und auf der Zunge markant voneinander unterscheiden.
Barbaresco wird näher am Tanaro angebaut, in tieferer Hanglage (180 bis 300 m ü.M.) auf Kalk-, Mergelund Sandböden, die herbstlichen Nebel treten früher auf. Im Ganzen ist er weicher, weniger tanninbetont, jünger zugänglich und früher voll ausgereift als ein Barolo, zeigt weniger Ecken und Kanten. Eleganz und Finesse setzen die Akzente vor Kraft und herber Fülle. Himbeere, Pflaume, Veilchen, Rosentöne und Orangenschalen ersetzen die Noten von Lakritze, Teer und Waldböden. Hervorragende Barbaresci mit fast unschlagbarer Preis-/Qualitätsrelation werden
von den Produttori del Barbaresco hervorgebracht. Neben dem vorzüglichen Basis-Barbaresco führt kein Weg an der Reihe erstklassiger Lagen-Riservas vorbei, aus der vielleicht Rabajà, Asili und Monteficio herausragen. Aber auch viele weitere Häuser, wie etwa Bruno Giacosa, Ceretto, Marchesi di Grésy, Ca’
del Baio oder Castello di Neive schicken Jahr für Jahr Vollblut-Barbaresci ins Rennen. Angelo Gaja gibt nur noch seine Basiscuvée als Barbaresco in den Handel, bei den Lagenweinen huldigt er der Region und füllt sie in wohl kalkuliertem Understatement und zu selbstbewussten Preisen als
Langhe Nebbiolo auf die Flasche.
Alto Piemonte: Zurück in die Zukunft
Weiter nördlich, in den VercelliBergen gedeiht in Hanglage der prächtige Gattinara, teilweise auf Gletscher-Moränen-Böden und vulkanischem Gestein. Er wird nach seinem Heimatort benannt. Die Römer haben hier die ersten Weinberge angelegt und als der Kardinal Mercurino Arborio, Kanzler Kaiser Karls V. (1500-1558), den Gattinara im 16. Jahrhundert an die europäischen Höfe brachte, erlebte dieser eine Blütezeit, lange vor den Weinen des südlichen Piemonte. Gattinara, dessen Anbaufläche sich seitdem auf ein Sechstel der damaligen Ausdehnung reduziert hat, liefert einen weiteren faszinierenden Beitrag zur Vielfalt des Nebbiolo, der hier im Alto Piemonte einst – auf den Römer Plinius
den Älteren zurückgehend – Spanna genannt wurde (uve spinea). Meist ist er deutlich weicher und milder als ein Nebbiolo aus dem Süden, mit einem Anflug von Waldbeeren und Trockenfrüchten, gebändigter Säure und samtiger Struktur. Hervorzuheben sind die großartigen Weine der ambitionierten, ökologisch geführten Azienda von Lorella und Alberto Antoniolo. Ein Gattinara aus ihrem Hause, allen voran die Crus Vigneto San Francesco oder Osso San Grato, braucht keinen Vergleich mit einem großen Barolo oder Barbaresco zu scheuen! Reife Pflaume, Schwarzkirsche, Rosentöne und ein Hauch Kakao, Kaffee oder Teer, sowie eine feine Kräuterwürze charakterisieren diese perfekt balancierten Weine.
Diese sowie die Gewächse weiterer führender Erzeuger scheinen dazu prädestiniert, ruhmreiche Vergangenheit in die Zukunft zu projizieren. Das im Gegensatz zu Weinorten wie Barolo und Barbaresco den Versuchungen globalistischer Lifestylekultur und den Interessen profitorientierter internationaler Anleger nicht ausgesetzte Alto Piemonte hat das Zeug dazu, zum Garanten für Ursprünglichkeit und Tradition, im Verbund mit innovativer ökologischer Weinerzeugung zu werden. Und damit die Hierarchie der Piemonte-Weine ein Stück weit neu zu definieren, im Nimbus hinter einem Barolo oder Barbaresco nicht länger zurückstehend.
Auch der Ghemme, dessen Anbau auf die Kelten zurückgeht und auf den namensgebenden Weinort und die Gemeinde Romagnano Sesia beschränkt ist, entstammt als Nachbarwein des Gattinara der sonnigen Hanglage in den Novara-VercelliBergen. Zu seinen Veilchentönen entwickelt er nicht selten eine leicht harzige Note und feine Bittertöne, ist körperhaft und von weicher Struktur. Seit Jahrzehnten setzen die Antichi Vigneti di Cantalupo hier Maßstäbe.
65 Kilometer östlich findet sich im südlichen Aosta-Tal die Heimat des Carema, der ebenfalls aus der Nebbiolo-Traube gewonnen wird, hier auch Picutener oder Pugnet genannt. Der Anbau erfolgt überwiegend in extrem steiler Hanglage auf felsigen Moränenböden, oftmals auf abenteuerlich zwischen Felsblöcken eingepferchten Weinparzellen und deswegen im Pergola-Anbau. Carema verdankt dem kühlen Klima und den felsigen Böden ein einzigartiges Bukett, er verkörpert einen singulären Terroir-Wein mit zarten Himbeerund Rosentönen, ist von eleganter Struktur und Finesse. Kraftmeierei und Wucht sind ihm unbekannt. Die Cantina dei Produttori Nebbiolo di Carema besticht mit einem betörenden Carema Riserva von beinahe schwebender Leichtigkeit.
Schließlich ragt das Anbaugebiet des Nebbiolo, der dort auch Chiavenasca genannt wird, in einen kleinen Bereich in die westliche Lombardei hinein, wo er als Valtellina-Superiore die Weine Sassella, Grumello, Inferno und Valgella hervorbringt.
In all ihrem Facettenreichtum spielt die Nebbiolo-Traube wahrlich auf den ganz vorderen Plätzen in der Champions League!