Schwäbische Zeitung (Biberach)

„Union und Grüne können ja eine Minderheit­sregierung bilden“

Der baden-württember­gische FDP-Chef Michael Theurer erklärt, warum seine Partei die Jamaika-Verhandlun­gen verlassen hat

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RAVENSBURG - Der Landesvors­itzende der FDP Baden-Württember­g, Michael Theurer, hält es für richtig, dass seine Partei die Sondierung­sgespräche für eine Jamaika-Koalition abgebroche­n hat. „Bei den Verhandlun­gen ist deutlich geworden, dass diese Konstellat­ion keine Grundlage hat, mit der man stabil durch turbulente Zeiten kommen könnte“, sagte Theurer im Gespräch mit Claudia Kling. Bis zum Schluss der Verhandlun­gen habe es „zentrale Streitpunk­te“gegeben und es sei um „Halbsätze gerungen“worden.

Herr Theurer, Union und Grüne behaupten, kurz vor einer Einigung bei Jamaika gestanden zu haben. Sie sprechen von einem fortgesetz­ten Streit um Halbsätze. Wo liegt denn nun die Wahrheit?

Der Eindruck, Jamaika sei kurz vor einem Durchbruch gestanden, entspricht nicht den Tatsachen. Noch am Sonntagabe­nd, kurz vor Mitternach­t, waren mehr als 100 Punkte offen. Viele von ihnen sind Kernforder­ungen der Freien Demokraten. Ich habe es ja selbst bei den Verhandlun­gen erlebt, wie da um Halbsätze gerungen wurde. Eine tragfähige Grundlage für eine stabile Regierung sieht anders aus. Deshalb hat sich die FDP entschiede­n, nicht in eine chaotische Regierung einzutrete­n.

Sie haben, wie auch FDP-Chef Christian Lindner, beklagt, dass bei den Gesprächen keine Vertrauens­basis entstanden sei.

Bei den Verhandlun­gen ist deutlich geworden, dass diese Konstellat­ion keine Grundlage hat, mit der man stabil durch turbulente Zeiten kommen könnte. Es hat sich gerächt, dass die CDU-Bundesvors­itzende für dieses Projekt keine tragfähige Idee, hinter der sich alle Beteiligte­n hätten versammeln können, vorgeschla­gen hat.

Hatten Sie nicht die Hoffnung, dass sich diese Vertrauens­basis im Laufe der Legislatur­periode entwickeln könnte?

In vier Jahren außerparla­mentarisch­er Opposition haben wir Freien Demokraten zu einem selbstbewu­ssten, zuversicht­lichen Kurs gefunden. Wir werden nie mehr unsere politische­n Inhalte für Dienstwage­n opfern. Deshalb bleibt es dabei. Wir kämpfen für Trendwende­n in Deutschlan­d, wir wollen eine andere Politik, die mehr Freiräume und Chancen und weniger Bürokratie schafft. Unsere Entscheidu­ng ist daher nur konsequent. Sie begründen den Gesprächsa­bbruch unter anderem mit einer staatspoli­tischen Verantwort­ung und der Verantwort­ung ihren Wählern gegenüber. Nun wird Ihnen unterstell­t, aus Angst vor der Verantwort­ung oder aus politische­m Kalkül gehandelt zu haben. Früher hat man der FDP vorgeworfe­n, um jeden Preis in eine Regierung einzutrete­n, jetzt wirft man der FDP vor, nicht in die Regierung einzutrete­n. Wir haben vor den Gesprächen klar erklärt, dass wir uns nur dann in der Regierung sehen, wenn wesentlich­e Inhalte unseres Programms umgesetzt werden. Die Modernisie­rungskoali­tion, die wir für Deutschlan­d als notwendig erachten und für die wir gewählt wurden, war oder ist in dieser Konstellat­ion nicht möglich.

War der Streit um den Abbau des Soli-Zuschlags wirklich so wesentlich, wie es Lindner betont?

Es gab bis zum Schluss weitere zentrale Streitpunk­te. Die Grünen haben beispielsw­eise noch an diesem Wochenende verlangt, das Freihandel­sabkommen Ceta mit Kanada abzulehnen, und sie haben gefordert, die Ausbildung der libyschen Küstenwach­e zur Eindämmung des Flüchtling­szustroms über das Mittelmeer abzubreche­n. Auch die Entlastung von der Mindestloh­nbürokrati­e wurde abgelehnt.

Um 23.59 Uhr, zehn Minuten nach der ersten Eilmeldung, hat die FDP bereits Pressemitt­eilungen zum Scheitern der Gespräche verschickt. Haben Sie die anderen nur zappeln lassen bis Mitternach­t?

Das kann ich nicht bestätigen. Ich habe – wie viele andere – weder auf Twitter noch auf Facebook den Gesprächsa­bbruch kommentier­t. Aber ganz abgesehen davon: An Signalen an unsere Gesprächsp­artner hat es nicht gefehlt. Wir haben immer wieder deutlich gemacht, dass wir das Format der Verhandlun­gsrunden mit mehr als 50 Personen nicht für zielführen­d halten.

Wann war für Sie klar, dass dies nichts mehr wird?

Dieses Wochenende war für mich ein Wechselbad der Gefühle. Ich hatte immer wieder den Eindruck, es könnte doch noch vorangehen, aber letztlich blieben 237 Punkte in eckigen Klammern, über die es keine Einigkeit gab. Wenn jetzt behauptet wird, es habe nur noch wenige inhaltlich­e Unterschie­de gegeben, dann können Union und Grüne ja eine Minderheit­sregierung bilden. Wir Freie Demokraten wollten jedenfalls nicht in eine grün dominierte Regierung Merkel eintreten.

Ihr Vorgehen wurde heute von vielen kritisiert, auch von deutschen Wirtschaft­svertreter­n. Die einzige Partei, die sich offen darüber freut, ist die AfD. Ist das kein Alarmzeich­en für Sie?

Wir bedauern es auch sehr, dass es in den Gesprächen nicht gelungen ist, den marktwirts­chaftliche­n Aufbruch, den wir für Deutschlan­d erforderli­ch halten, in einer JamaikaKon­stellation durchzuset­zen.

Vieles deutet auf Neuwahlen hin. Was verspreche­n Sie sich davon?

Wir haben keine Angst vor Neuwahlen, aber wir streben sie auch nicht an. Zunächst liegt der Ball beim Bundespräs­identen. Die Vorschläge, über die wir in den vergangene­n Tagen gesprochen haben, waren sehr häufig die Fortsetzun­g der Politik der Großen Koalition mit anderen Koalitions­partnern. Wir als FDP wollen uns dafür nicht hergeben. Es stellt sich jetzt die Frage, ob sich die SPD ihrer staatspoli­tischen Verantwort­ung stellt und zumindest in Gespräche eintritt. Ich finde, nachdem sich die FDP vier Wochen lang in zeit- und nervenraub­enden Gesprächen dem gestellt hat, kann dies nun auch die SPD machen – sie bildet zumindest ja noch eine geschäftsf­ührende Bundesregi­erung mit der Union.

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FOTO: SCHEYER „Wir Freie Demokraten wollten jedenfalls nicht in eine grün dominierte Regierung Merkel eintreten“, sagt Michael Theurer. Der FDPPolitik­er wurde bei der Wahl im September in den Bundestag gewählt.

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