Schwäbische Zeitung (Biberach)
Verärgerte Wirtschaft
Unternehmensverbände und Handwerksvertreter fordern stabile Regierung – Finanzmärkte reagieren gelassen
RAVENSBURG - Vertreter deutscher Wirtschaftsverbände haben am Montag mit Verärgerung auf das Aus der Sondierungsgespräche zu einer möglichen Jamaika-Koalition reagiert. Sie fordern nun von den Parteien möglichst schnell eine Lösung, um damit Stabilität herzustellen. Unbeeindruckt von den abgebrochenen Gesprächen zeigten sich hingegen die Finanzmärkte. Der Dax drehte sich nach einem kurzen Einbruch am Morgen wieder ins Plus.
Aus den Reihen deutscher Wirtschaftsvertreter waren am Montag Worte wie „Enttäuschung“, „fatal“und „unbefriedigend“zu hören. Unternehmer Reinhold Würth sprach gar von einer „grandiosen Blamage“. Damit die Auftragsbücher auch in Zukunft voll bleiben, müssen dringend politische Weichen gestellt werden. Strategien für die Digitalisierung, Steuerentlastungen des Mittelstands, Energieversorgung und Migration fehlen.
Der Präsident der Deutschen Industrie und Handelskammer, Eric Schweitzer, erklärte bereits in der Nacht zum Montag, mit dem Ende der Verhandlungen werde „eine Chance verpasst, ideologische Grenzen zu überwinden und sachgerechte Lösungen zu finden“. Nun bestehe die Gefahr, dass wichtige Zukunftsthemen verzögert würden. Unternehmen müssten sich auf eine längere Phase der Unsicherheit einstellen. „Eine Hängepartie kann sich Deutschland in keiner Hinsicht leisten“, sagte Thilo Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Maschinenund Anlagenbau.
Ähnlich äußerte sich auch Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks. Er zeigte sich überzeugt, dass die Chance und das Potenzial vertan worden seien, „Deutschland mit neuen Ideen und Denkmustern einen Modernisierungsschub zu geben“. Stillstand beim Regierungshandeln und politische Ungewissheit seien „Gift“für die Wirtschaft, erklärte Wollseifer.
„Für Stabilität und Handlungsfähigkeit ist dies ein herber Rückschlag“, sagte auch Ulrich Wagner, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Schwaben. Während wichtige Themen für die Wirtschaft angepackt werden müssten, drehe sich die Politik um sich selbst, so Wagner.
„Deutschland braucht eine stabile Regierung“, forderte Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer. „Unser Land und Europa stehen vor großen Herausforderungen, die Handlungsfähigkeit erfordern. Deshalb rufe ich alle auf, sich auf ihre staatspolitische Verantwortung zu besinnen.“Weder der Abbruch von Verhandlungen noch die Weigerung, Verhandlungen überhaupt aufzunehmen, brächten eine stabile Regierung zustande.
Ähnlich äußerte sich auch der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Dieter Kempf. „Alle Parteien müssen bereit sein, Kompromisse für Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung zu schließen.“Das Scheitern der JamaikaSondierungen sei „absolut unbefrie- Thilo Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des VDMA
„Eine Hängepartie kann sich Deutschland in keiner Hinsicht leisten.“
Ein Mitarbeiter montiert Geräte beim Reinungsmaschinenhersteller Kärcher: Ökonomen erhoffen sich eine stabile Regierung, damit der Wirtschaftsstandort Deutschland weiterhin stark bleibt.
digend“. Die Industrie stehe trotz der aktuell günstigen wirtschaftlichen Lage „vor enormen Herausforderungen“, betonte Kempf. „Deutschland muss rasch zukunftsfähig werden.“Dazu bedürfe es mehr als einer bloß geschäftsführenden Regierung.
Optimistischer zeigten sich hingegen Vertreter der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute. „Noch sind nicht alle Stricke gerissen. Die Jamaika-Parteien müssen einen neuen Anlauf machen, denn sie wissen: Für keine von ihnen würden Neuwahlen Erfolg versprechen“, Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen In-
stituts für Wirtschaftsforschung. IfoPräsident Clemens Fuest rechnet mit einer Minderheitsregierung. Diese bringe Risiken aber auch Chancen für die deutsche Wirtschaft. „Die Chance besteht darin, dass die Rolle des Parlaments gestärkt wird und über einzelne politische Entscheidungen ausführlicher und offener diskutiert wird“, so der Präsident.
Der Chef-Volkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer, rechnet mit keinem negativen Einfluss der geplatzten Gespräche und sogar mit weiterem Wachstum für die deutsche Wirtschaft. „Denn angefacht
durch die lockere EZB-Geldpolitik besitzt sie so viel Schwung, dass sich die zahlreichen, politisch zu lösenden Probleme Deutschlands vorerst nicht bemerkbar machen werden“, so Krämer.
Auf den Finanzmärkten war am Montag von einer großen Panik wenig zu spüren. Nachdem die Nachricht vom Scheitern der Sondierungen zunächst zu leichten Verlusten geführt hatte, stieg der Dax am Montagnachmittag wieder auf ein moderates Plus. Auch der Euro konnte sich etwas von seiner anfänglichen Schwäche erholen.
Für die EU
ist der Abbruch der Jamaika-Sondierungen in Berlin ein Desaster. Bis zum Austritt Großbritanniens, der Neuwahl des EUParlaments und der Ernennung eines neuen Kommissionspräsidenten im übernächsten Jahr müssen mehrere schwere Brocken aus dem Weg geräumt werden. Das aber kann nur mit einer starken, handlungsfähigen deutschen Regierung gelingen. „Das sind schlechte Nachrichten für Europa“, sagte der niederländische Europastaatssekretär Halbe Zijlstra in Brüssel. „Ich denke, Neuwahlen sind ein schlechtes Szenario.“Wenn Deutschland als „sehr einflussreiches Land in der EU“über längere Zeit keine Regierung habe, „wird es sehr schwierig werden, harte Entscheidungen zu fällen“.
Der französische Präsident
bedauert das Scheitern der Gespräche über eine Regierungskoalition. Macron sagte, er habe noch am Sonntagabend mit Angela Merkel telefoniert. „Es ist nicht in unserem Interesse, dass sich das anspannt“, sagte er. Einen Rückschlag bedeutet das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen vor allem für Macrons Pläne für eine umfassende EU-Reform. Der Präsident betonte, Frankreich müsse dennoch „vorwärtsgehen“. Russlands Präsident
wünscht Deutschland nach dem Abbruch der Jamaika-Sondierungsgespräche eine schnelle Lösung. „Wir beobachten, wie der Prozess zur Regierungsfindung vorangeht. Wir wünschen einen baldigen erfolgreichen Abschluss“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Tass zufolge. Deutschland sei ein wichtiger Wirtschaftspartner für Russland und habe für Moskau auch innerhalb der EU hohe Priorität.
Mit Häme reagieren Anhänger des türkischen Präsidenten
auf das Scheitern der Gespräche über eine Regierungsbildung in Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel und jene deutsche Parteien, die im Wahlkampf mit einer stark anti-türkischen Haltung aufgefallen seien, stünden nun vor möglichen Neuwahlen, meldete die regierungsnahe Zeitung „Star“. Die Türkei müsse sich auf eine Bundesregierung ohne Merkel an der Spitze einstellen, hieß es in türkischen Kommentaren: Die Kanzlerin stehe möglicherweise vor dem Aus, hieß es im nationalistischen Blatt „Sözcü“. Schon der Ausgang der Bundestagswahl im September war in der Türkei als Niederlage für Merkel gewertet worden. Die Beziehungen zwischen beiden Ländern waren unter anderem durch Erdogans Aufruf an deutsch-türkische Wähler belastet worden, Union, SPD und Grüne bei der Wahl zu boykottieren. Sinan Ülgen, Chef der Istanbuler Denkfabrik EDAM, schrieb, das Scheitern der Jamaika-Gespräche sei „eine schlechte Nachricht“für die türkisch-deutschen Beziehungen. (dawe/güs/dpa/AFP)
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