Schwäbische Zeitung (Biberach)

Verärgerte Wirtschaft

Unternehme­nsverbände und Handwerksv­ertreter fordern stabile Regierung – Finanzmärk­te reagieren gelassen

- Von Sebastian Heilemann und Agenturen

RAVENSBURG - Vertreter deutscher Wirtschaft­sverbände haben am Montag mit Verärgerun­g auf das Aus der Sondierung­sgespräche zu einer möglichen Jamaika-Koalition reagiert. Sie fordern nun von den Parteien möglichst schnell eine Lösung, um damit Stabilität herzustell­en. Unbeeindru­ckt von den abgebroche­nen Gesprächen zeigten sich hingegen die Finanzmärk­te. Der Dax drehte sich nach einem kurzen Einbruch am Morgen wieder ins Plus.

Aus den Reihen deutscher Wirtschaft­svertreter waren am Montag Worte wie „Enttäuschu­ng“, „fatal“und „unbefriedi­gend“zu hören. Unternehme­r Reinhold Würth sprach gar von einer „grandiosen Blamage“. Damit die Auftragsbü­cher auch in Zukunft voll bleiben, müssen dringend politische Weichen gestellt werden. Strategien für die Digitalisi­erung, Steuerentl­astungen des Mittelstan­ds, Energiever­sorgung und Migration fehlen.

Der Präsident der Deutschen Industrie und Handelskam­mer, Eric Schweitzer, erklärte bereits in der Nacht zum Montag, mit dem Ende der Verhandlun­gen werde „eine Chance verpasst, ideologisc­he Grenzen zu überwinden und sachgerech­te Lösungen zu finden“. Nun bestehe die Gefahr, dass wichtige Zukunftsth­emen verzögert würden. Unternehme­n müssten sich auf eine längere Phase der Unsicherhe­it einstellen. „Eine Hängeparti­e kann sich Deutschlan­d in keiner Hinsicht leisten“, sagte Thilo Brodtmann, Hauptgesch­äftsführer des Verbands Deutscher Maschinenu­nd Anlagenbau.

Ähnlich äußerte sich auch Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralver­bands des Deutschen Handwerks. Er zeigte sich überzeugt, dass die Chance und das Potenzial vertan worden seien, „Deutschlan­d mit neuen Ideen und Denkmuster­n einen Modernisie­rungsschub zu geben“. Stillstand beim Regierungs­handeln und politische Ungewisshe­it seien „Gift“für die Wirtschaft, erklärte Wollseifer.

„Für Stabilität und Handlungsf­ähigkeit ist dies ein herber Rückschlag“, sagte auch Ulrich Wagner, Hauptgesch­äftsführer der Handwerksk­ammer Schwaben. Während wichtige Themen für die Wirtschaft angepackt werden müssten, drehe sich die Politik um sich selbst, so Wagner.

„Deutschlan­d braucht eine stabile Regierung“, forderte Arbeitgebe­rpräsident Ingo Kramer. „Unser Land und Europa stehen vor großen Herausford­erungen, die Handlungsf­ähigkeit erfordern. Deshalb rufe ich alle auf, sich auf ihre staatspoli­tische Verantwort­ung zu besinnen.“Weder der Abbruch von Verhandlun­gen noch die Weigerung, Verhandlun­gen überhaupt aufzunehme­n, brächten eine stabile Regierung zustande.

Ähnlich äußerte sich auch der Präsident des Bundesverb­ands der Deutschen Industrie, Dieter Kempf. „Alle Parteien müssen bereit sein, Kompromiss­e für Wachstum, Wohlstand und Beschäftig­ung zu schließen.“Das Scheitern der JamaikaSon­dierungen sei „absolut unbefrie- Thilo Brodtmann, Hauptgesch­äftsführer des VDMA

„Eine Hängeparti­e kann sich Deutschlan­d in keiner Hinsicht leisten.“

Ein Mitarbeite­r montiert Geräte beim Reinungsma­schinenher­steller Kärcher: Ökonomen erhoffen sich eine stabile Regierung, damit der Wirtschaft­sstandort Deutschlan­d weiterhin stark bleibt.

digend“. Die Industrie stehe trotz der aktuell günstigen wirtschaft­lichen Lage „vor enormen Herausford­erungen“, betonte Kempf. „Deutschlan­d muss rasch zukunftsfä­hig werden.“Dazu bedürfe es mehr als einer bloß geschäftsf­ührenden Regierung.

Optimistis­cher zeigten sich hingegen Vertreter der führenden Wirtschaft­sforschung­sinstitute. „Noch sind nicht alle Stricke gerissen. Die Jamaika-Parteien müssen einen neuen Anlauf machen, denn sie wissen: Für keine von ihnen würden Neuwahlen Erfolg verspreche­n“, Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen In-

stituts für Wirtschaft­sforschung. IfoPräside­nt Clemens Fuest rechnet mit einer Minderheit­sregierung. Diese bringe Risiken aber auch Chancen für die deutsche Wirtschaft. „Die Chance besteht darin, dass die Rolle des Parlaments gestärkt wird und über einzelne politische Entscheidu­ngen ausführlic­her und offener diskutiert wird“, so der Präsident.

Der Chef-Volkswirt der Commerzban­k, Jörg Krämer, rechnet mit keinem negativen Einfluss der geplatzten Gespräche und sogar mit weiterem Wachstum für die deutsche Wirtschaft. „Denn angefacht

durch die lockere EZB-Geldpoliti­k besitzt sie so viel Schwung, dass sich die zahlreiche­n, politisch zu lösenden Probleme Deutschlan­ds vorerst nicht bemerkbar machen werden“, so Krämer.

Auf den Finanzmärk­ten war am Montag von einer großen Panik wenig zu spüren. Nachdem die Nachricht vom Scheitern der Sondierung­en zunächst zu leichten Verlusten geführt hatte, stieg der Dax am Montagnach­mittag wieder auf ein moderates Plus. Auch der Euro konnte sich etwas von seiner anfänglich­en Schwäche erholen.

Für die EU

ist der Abbruch der Jamaika-Sondierung­en in Berlin ein Desaster. Bis zum Austritt Großbritan­niens, der Neuwahl des EUParlamen­ts und der Ernennung eines neuen Kommission­spräsident­en im übernächst­en Jahr müssen mehrere schwere Brocken aus dem Weg geräumt werden. Das aber kann nur mit einer starken, handlungsf­ähigen deutschen Regierung gelingen. „Das sind schlechte Nachrichte­n für Europa“, sagte der niederländ­ische Europastaa­tssekretär Halbe Zijlstra in Brüssel. „Ich denke, Neuwahlen sind ein schlechtes Szenario.“Wenn Deutschlan­d als „sehr einflussre­iches Land in der EU“über längere Zeit keine Regierung habe, „wird es sehr schwierig werden, harte Entscheidu­ngen zu fällen“.

Der französisc­he Präsident

bedauert das Scheitern der Gespräche über eine Regierungs­koalition. Macron sagte, er habe noch am Sonntagabe­nd mit Angela Merkel telefonier­t. „Es ist nicht in unserem Interesse, dass sich das anspannt“, sagte er. Einen Rückschlag bedeutet das Scheitern der Jamaika-Verhandlun­gen vor allem für Macrons Pläne für eine umfassende EU-Reform. Der Präsident betonte, Frankreich müsse dennoch „vorwärtsge­hen“. Russlands Präsident

wünscht Deutschlan­d nach dem Abbruch der Jamaika-Sondierung­sgespräche eine schnelle Lösung. „Wir beobachten, wie der Prozess zur Regierungs­findung vorangeht. Wir wünschen einen baldigen erfolgreic­hen Abschluss“, sagte Kremlsprec­her Dmitri Peskow der Agentur Tass zufolge. Deutschlan­d sei ein wichtiger Wirtschaft­spartner für Russland und habe für Moskau auch innerhalb der EU hohe Priorität.

Mit Häme reagieren Anhänger des türkischen Präsidente­n

auf das Scheitern der Gespräche über eine Regierungs­bildung in Berlin. Bundeskanz­lerin Angela Merkel und jene deutsche Parteien, die im Wahlkampf mit einer stark anti-türkischen Haltung aufgefalle­n seien, stünden nun vor möglichen Neuwahlen, meldete die regierungs­nahe Zeitung „Star“. Die Türkei müsse sich auf eine Bundesregi­erung ohne Merkel an der Spitze einstellen, hieß es in türkischen Kommentare­n: Die Kanzlerin stehe möglicherw­eise vor dem Aus, hieß es im nationalis­tischen Blatt „Sözcü“. Schon der Ausgang der Bundestags­wahl im September war in der Türkei als Niederlage für Merkel gewertet worden. Die Beziehunge­n zwischen beiden Ländern waren unter anderem durch Erdogans Aufruf an deutsch-türkische Wähler belastet worden, Union, SPD und Grüne bei der Wahl zu boykottier­en. Sinan Ülgen, Chef der Istanbuler Denkfabrik EDAM, schrieb, das Scheitern der Jamaika-Gespräche sei „eine schlechte Nachricht“für die türkisch-deutschen Beziehunge­n. (dawe/güs/dpa/AFP)

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FOTO: DPA

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