Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Die Menschen fühlen sich durch solche Debatten gestärkt“
Der Weiße Ring ist Anlaufstelle für Gewaltopfer – Öffentliche Sexismusdebatte sei für Aufarbeitung von Verbrechen wertvoll
RAVENSBURG - Bis zu 200 Verbrechensopfer betreut die Außenstelle des Weißen Rings in Ravensburg jedes Jahr. Die Straftaten, unter denen die Betroffenen leiden, sind vielfältig. Häufig geht es um sexuellen Missbrauch, Vergewaltigung, Mord oder Raub. Ein Schwerpunkt sind Gewalttaten gegen Frauen. Die Sexismusdebatte „#metoo“, die zurzeit die Medien beherrscht, ist für den Leiter Josef Hiller wichtig. Michael Häußler hat mit ihm über die Auswirkungen gesprochen.
Herr Hiller, welche Rolle spielt die aktuelle Sexismusdebatte für den Weißen Ring?
Die Diskussion ist sehr wertvoll, weil sie den Fokus auf die Opfer legt. Es ist oft so, dass sich öffentlich alles um den Täter dreht. Der wird immer diskutiert und bekommt einen breiten Raum. Die Opfer fühlen sich dabei zum Objekt degradiert. So wird es noch belastender für sie. Wichtig ist einfach, dass man ihnen glaubt. Die Stammtischmeinung ist immer noch oft: selbst schuld. Und nach unserer Erfahrung ist es auch so, dass sich die Opfer meistens selbst die Schuld geben. Diese Vorwürfe sind immer nur schwer aufzuarbeiten.
Hilft das öffentliche Interesse, dass sich seither mehr Frauen oder Opfer generell an Sie wenden?
Aus dieser Debatte bislang noch nicht, nein. Aber Menschen, die als Kind sexuell missbraucht wurden. Das kam durch die Diskussion vor etwa zwei Jahren. Da standen verschiedene Institutionen und die Kirchen im Fokus mit sexuellem Missbrauch. Das hat dazu geführt, dass es mehr Hilferufe gegeben hat.
Da hat es also etwas gedauert, bis Reaktionen kamen. Könnte das jetzt auch so sein?
Viele verdrängen das auch. Es dauert bestimmt eine Weile, bis es bei uns, der Frauenberatung oder anderen Organisationen ankommt. Das ist alles ein längerer Prozess. Eigentlich müssten wir sogar hoffen, dass es so kommt. Damit die Menschen das aufarbeiten können. Die Menschen fühlen sich durch solche Debatten aber gestärkt, wissen, dass es andere gibt, die ihnen helfen. Die Belastungen solcher Taten sind enorm und brennen sich in die Seele ein.
Warum aber braucht es diese Debatten? Sind Organisationen wie der Weiße Ring nicht bekannt genug?
Die Hilfsmöglichkeiten sind teilweise wirklich nicht bekannt. Es gibt ein gutes Hilfesystem. Wir sind auch großartig vernetzt, zu Anwälten, Traumatherapeuten und es gibt finanzielle Hilfen.
Aber unbekannt.
Vielen unbekannt. Gerade bei den Opfern. Wenn, dann spricht es sich viel über Mund-zu-Mund-Propaganda herum.
Warum ist Sexismus so verbreitet. Welche Motivation steckt dahinter?
Dabei geht es oft um Abhängigkeiten. Es geht um Macht. Viele Sexualdelikte sind Gewaltdelikte, das Gefälle zwischen Opfer und Täter spielt da eine Rolle. Besteht eine wirtschaftliche oder berufliche Abhängigkeit, ist es immer schwer, sich zu outen. Das ist Machtmissbrauch in Reinkultur.
Sind davon nur Frauen betroffen?
Man kann natürlich auch Männer zwingen, gerade, wenn es um Macht geht. Ich habe in den vergangenen vier Jahren hier allerdings noch keinen betreut. Den ersten habe ich jetzt gerade. Er hat sich geoutet, Opfer häuslicher Gewalt zu sein. Das ist für Männer auch so ein Tabuthema.
Sind solche Fälle oftmals aus dem nahen Umfeld, wie bei häuslicher Gewalt oder ein zufälliges Opfer, wie der Fall, der zurzeit vor dem Landgericht Freiburg verhandelt wird?
Wenn so etwas passiert, dann wird es medial sehr stark verbreitet. Sexualmord, ein unbekannter Täter. Das erzeugt unheimlich Angst. Aber das ist eigentlich die Ausnahme. Sexueller Missbrauch, Vergewaltigungen oder Tötungsdelikte passieren hauptsächlich aus dem sozialen Umfeld heraus, aus Beziehungen oder Vorbeziehungen. Der absolute Fremdtäter ist nicht wegzudiskutieren, aber doch eher die Ausnahme.
„Nein heißt Nein.“Damit hat die Bundesregierung das Sexualstrafrecht verschärft. Hat sich diese Reform ausgewirkt?
„Nein heißt Nein“muss sich in allen Bereichen durchsetzen. Kinder werden mit diesem Motto gestärkt, sich abzugrenzen, auch um sexuellen Missbrauch zu verhindern. Oder ihn, wenn er geschehen ist, zu benennen. Genauso bei sexuellen Übergriffen. Das Gesetz ist die Grundlage. Es trägt dazu bei, Rechtssicherheit zu geben, und die Opfer zu bestärken, das Unrecht zu erkennen und zu benennen. Ausgewirkt hat sich die Reform aus meiner Erfahrung bei Gewalt in der Ehe. Ein ganz schwieriges Thema. Dabei gibt es auch viele Abhängigkeiten. Es hat viel mit häuslicher Gewalt zu tun. Viele Frauen gehen auch in diese Beziehungen zurück, weil sie es aus ihrer Sicht müssen. Das darf man nicht verteufeln. Die müssen wir alle beraten und unterstützen. Mittlerweile wird im Hilfenetzwerk auch ein Therapeut für die Männer zur Verfügung gestellt. Wenn sie zustimmen, um Aggressionen in den Griff zu kriegen, ist das ein gutes Ergebnis.