Schwäbische Zeitung (Biberach)
SPD-Linke gegen neue Große Koalition
Auch im Südwesten regt sich Widerstand – Unionspolitiker zeigen sich zuversichtlich
BERLIN/RAVENSBURG - Die Spitzen von Union und SPD nehmen mit einem umfangreichen Kompromiss zu Krankenversicherung, Flüchtlingen, Rente und Investitionen Kurs auf eine neue Große Koalition. Während auf Seiten von CDU und CSU die Zuversicht überwiegt, regt sich vor allem beim linken Flügel der Sozialdemokraten Widerstand, unter anderem von der Ulmer Bundestagsabgeordneten Hilde Mattheis. Kritik kam auch von der Opposition. So erklärte die Ravensburger Bundestagsabgeordnete Agnieszka Brugger (Grüne) am Freitag: „Union und SPD wollen ihre ideenlose Politik der letzten Jahre einfach fortsetzen.“
Im SPD-Vorstand ist der Gegenwind indes schwächer als erwartet. Parteichef Martin Schulz schloss am Freitagabend nicht mehr aus, Teil eines Kabinetts unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu sein. Schulz hatte nach der Bundestagswahl noch gesagt: „In eine Regierung von Angela Merkel werde ich nicht eintreten.“Damals hatte Schulz aber auch jene Große Koalition ausgeschlossen, über die jetzt wieder verhandelt werden soll.
CDU-Chefin Merkel, der CSUVorsitzende Horst Seehofer und Schulz hatten sich am Freitagmorgen auf ein 28-seitiges Sondierungspapier geeinigt. „Ich glaube, hier ist es ein Papier des Gebens und des Nehmens, wie es sein muss“, sagte Merkel. Seehofer zeigte sich ebenfalls hochzufrieden: „Dieses Ergebnis kann sich sehen lassen in allen Politikfeldern.“Die Union möchte die Koalitionsverhandlungen Mitte Februar abschließen. Eine Regierung könne dann bis Ostern stehen.
Zunächst aber muss der SPD-Parteitag am 21. Januar über die Aufnahme formeller Koalitionsverhandlungen entscheiden. Dies gilt wegen der Widerstände an der Basis, gerade auch im Südwesten, als große Hürde. Mattheis, die Vorsitzende der Demokratischen Linken 21, sagte am Freitag zur „Schwäbischen Zeitung“: „Wir wollen nun intensiver agieren.“Durch Kampagnen und Argumente wolle man die Parteitagsdelegierten überzeugen, gegen die Bildung der Großen Koalition zu stimmen. Es gibt zudem eine weitere Hürde. Sollten etwaige Koalitionsverhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden, macht SPD-Chef Schulz die endgültige Zusage an die Union von einem Mitgliederentscheid abhängig.
BERLIN - Angela Merkel (CDU) ist zufrieden, Horst Seehofer (CSU) sogar hochzufrieden, Martin Schulz (SPD) nennt das Ergebnis hervorragend. Nach über 24-stündigen Verhandlungen im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Zentrale, stellen die drei Parteichefs ihre Sondierungsergebnisse vor. Sie wirken erleichtert.
Hausherr Martin Schulz (SPD) wird es am schwersten haben, seiner Partei eine Neuauflage der Großen Koalition schmackhaft zu machen. Doch er ist zuversichtlich, zumal die 13-köpfige Sondierungsrunde einstimmig dafür votiert hatte, Verhandlungen zu einer Großen Koalition aufzunehmen. „Ich kann Ihnen sagen, meine Partei hat zu Beginn dieser Woche einen Beschluss gefasst, dass wir möglichst viele rote Inhalte durchsetzen wollen“, so Schulz, aber natürlich sei von Anfang an klar gewesen, dass man Kompromisse eingehen müsse.
Skeptikerin Dreyer überzeugt
Auf der Fraktionsebene im Reichstag wirbt wenig später Niedersachsens SPD-Ministerpräsident Stephan Weil noch einmal für die Große Koalition. Er war von Anfang an ein Streiter dafür, dass seine Partei die Regierungsverantwortung annehmen soll, und lobt jetzt die Beschlüsse von „weitreichender Bedeutung“wie die Bekämpfung der Altersarmut und die De facto-Aufhebung des Kooperationsverbots.
Seine weitaus skeptischere Kollegin aus Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, hatte bislang eher für eine Minderheitsregierung gestimmt, ist aber jetzt vom Sondierungsergebnis völlig überzeugt und will ebenfalls dafür werben. Ganz anders als so manche SPD-Mitarbeiter und Abgeordnete, die sich lieber noch nicht äußern wollen. Hilde Mattheis, die SPD-Linke, warnt dagegen im Licht vieler Kameras noch einmal vehement vor einer Neuauflage einer Großen Koalition. Weil die AfD nicht stärkste Oppositionskraft werden dürfe, weil man die Fahne der Bürgerversicherung nicht einrollen dürfe. Nach der SPD-Fraktionssitzung am Nachmittag aber tritt eine zuversichtliche SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles vor die Presse. „Ich darf sagen, es gab eine breite Unterstützung für das Sondierungsergebnis“, so Nahles, „und darüber freue ich mich.“Die frühere Arbeitsministerin lobt besonders die rentenpolitischen und arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen und den Aufbruch für die Europapolitik. Parteichef Martin Schulz hat sowohl in der Sozialpolitik als auch in der Europapolitik das Herzstück des Papiers ausgemacht. „Das Sondierungspapier spiegelt den Wunsch und den Willen wider, den Zusammenhalt der Gesellschaft neu zu organisieren und durch die Erneuerung den Zusammenhalt zu stärken.“Das sei der Geist der Sondierung gewesen. „Das Europakapitel ist ein Aufbruch für Europa“, so Schulz. Und soll eine eventuelle neue Große Koalition zusammenschweißen. Denn man sei gemeinschaftlich entschlossen, die Kraft der Bundesrepublik Deutschland für Europa einzubringen.
Während die SPD noch mit sich kämpfen muss und das Schicksal von Horst Seehofer, Angela Merkel und Martin Schulz bis auf Weiteres in der Hand der SPD-Basis liegt, sind die Christdemokraten und die CSU schon recht überzeugt. Die CSU, so Horst Seehofer, brauche deshalb auch keinen Parteitag.
CDU-Chefin Angela Merkel meint, das Sondierungspapier schaffe die Grundlage, „dass wir auch in zehn oder 15 Jahren gut in Deutschland leben können“. Der digitale Wandel werde vieles rasant ändern, deshalb müsse man schneller werden, Planungen beschleunigen, schneller in Verkehr, in Wohnungen und die Energiewende investieren können.
Ausdrücklich lobt Merkel auch die 15 000 neuen Polizisten. Sie ist froh, dass sie außenpolitische Handlungsfähigkeit zurückerlangt. „Wir haben erlebt, dass die Welt nicht auf uns wartet.“Gerade für Europa werde man gemeinsame Lösungswege finden.
Unionsfraktionschef Volker Kauder meldet wenig später „überwiegend Zustimmung“aus seiner Fraktion. Es werde sehr viel geschehen, man werde auf die Modernisierungsaufgaben reagieren. Wie die Kanzlerin meint Kauder: „Wir müssen schneller werden.“Das gelte auch für digitalen Ausbau für Schulen. CSU-Chef Horst Seehofer sagt, er sei hochzufrieden, das Ergebnis könne sich in allen Politikfeldern sehen lassen. Es gehe darum, was den Menschen in diesem Land nutze, von der Kita bis zum Pflegeheim.
Martin Schulz hofft nun, dass er die Delegierten des SPD-Parteitags in einer Woche überzeugen kann. Vorsichtshalber hat die SPD schon mal 60 Punkte festgehalten, auf die sie verweisen kann, von den Kindertagesstätten bis zum sozialen Wohnungsbau. Und er macht auf die alte Verhandlerweisheit aufmerksam: Die vorab geklärten Dinge seien es, die dann später nicht zu Unstimmigkeiten führten.