Schwäbische Zeitung (Biberach)
Plötzlich Familienzuwachs
Seit dreieinhalb Jahren arbeitet Sarah Murray mit Südkoreas Eishockeyfrauen – jetzt soll sie groß denken
Sarah Murray ist 29. Und Eishockeytrainerin: die Gene! Vater Andy Murray coachte die Los Angeles Kings und die St. Louis Blues, die Brüder Brady und Jordan verdienten mit ihrer Puckfertigkeit in der Schweiz gutes Geld. Und Sarah Murray? Stand auf Schlittschuhen, „sobald Dad ein Paar passende für mich gefunden hatte“. Hat für die University of Minnesota Duluth Bulldogs, den HC Lugano und die ZSC Lions Zürich verteidigt. Dann meldete sich Jim Paek. Einst erster koreanischer Spieler in der National Hockey League, war er seit wenigen Wochen „Director of Hockey“in seinem Heimatland, Trainer der Männer-Auswahl außerdem. Jetzt suchte er ein Pendant für die Frauen, jemanden, der sie für das olympische Eishockeyturnier 2018 fit machen würde – ihr Heimturnier in Pyeongchang. Sarah Murray bekam den Job.
Sarah Murray liebt den Job. 319 Mädchen und Frauen spielen in Südkorea Eishockey. Die Besten hat Sarah Murray um sich geschart, jeden Tag fast seit ihrem Amtsantritt im Herbst 2014: „Wir sind ein ElfMonate-Team.“Eines, das zusammengewachsen ist. Zusammen gewachsen auch. Man sei, sagt Mittelstürmerin Han Soo-jin, „wie eine Familie“.
Eine erfolgreiche Familie. 2017 hat Südkorea die Weltmeisterschaft Division II Group A gewonnen. Mit fünf Siegen, 21:3 Toren, dank zweier Treffer Han Soo-jins im letzten, entscheidenden Duell mit den Niederlanden. Die 30-Jährige übrigens galt als virtuos am Konzertflügel – Karriere absehbar. Sie entschied sich fürs Eishockey.
Dann kam die Politik ins Spiel
Sehnsuchtsort Pyeongchang. Als Olympia-Gastgeber ist Südkorea automatisch qualifiziert. Aber: wie konkurrenzfähig? Sarah Murray trainierte gegen die Antwort an, im ersten Jahr ließ sie viel an grundlegenden Dingen arbeiten: Scheibenführung, passen, schießen. Seither hieß das Stichwort vor allem „Hockey Sense“. Die Fähigkeit, ein Spiel zu lesen, war kaum ausgeprägt bei Han Soo-jin und Kolleginnen. 319 Spielerinnen = (zu) wenig Mannschaften = (zu) wenig Spiele. Wie also auf dem Eis unter Druck die richtigen Entscheidungen treffen? Spielformen am Anfang und Ende jeden Trainings taten das Ihre; Sarah Murrays Kontakte (plus das Geld des nationalen Verbandes) ermöglichten Testspielreisen nach Nordamerika. Die Mannschaft lernte schnell, ist jetzt auf Platz 22 der Weltrangliste, hatte sich für die olympischen Vorrundenaufgaben gegen die Schweiz (Sechster), gegen Schweden (Fünfter) und gegen Japan (Neunter) mehr vorgenommen als ein „Dabei sein ist alles“. Sie liebe es, ein „Underdog“zu sein, hatte Sarah Murray früh im Winter wissen lassen – und: „Wir wollen uns weiter verbessern.“
Dann kam die Politik ins Spiel, gab das Vereinigungsministerium in Seoul bekannt, dass in Pyeongchang eine gemeinsame süd-/nordkoreanische Fraueneishockey-Auswahl antreten soll. Delegationen der seit mehr als sechs Jahrzehnten verfeindeten Nachbarn hatten das Mitte Januar beschlossen; am Segen des Internationalen Olympischen Komitees fehlte es nicht. Zeige eine zum ersten Mal überhaupt vereinte koreanische Mannschaft in einer olympischen Sportart doch, dass der olympische Geist „immer Brücken, nie Mauern“baue. So sieht es Thomas Bach, der Präsident des IOC. So kann man es sehen in Zeiten eines Kim Jong-un samt nordkoreanischen Raketentests. Oder, mit weniger Pathos formuliert, als eine Art Sicherheitsgarantie für die Wettkampftage vom 9. bis 25. Februar.
Sarah Murrays Blick ist differenzierter. Annäherung durch Sport – „ich denke, diese Story ist großartig. Da ein Teil davon zu sein, ist wichtig.“Andererseits habe speziell sie „gemischte Gefühle: Wir können nicht unser komplettes Aufgebot spielen lassen.“Die Vorgaben durch das IOC besagen: Statt eines 23-FrauKaders umfasst das gesamtkoreanische Team 23 + 12 (nordkoreanische) Sportlerinnen. Spielen dürfen 22. Heißt für Sarah Murray, der die Verantwortung für die Mannschaft übertragen wurde: 13 Frauen je Partie erleben Olympia von der Tribüne aus. Heißt auch: Weil stets mindestens drei Nordkoreanerinnen nominiert sein müssen, schauen stets vier Südkoreanerinnen (mindestens) zu.
Kein Trainer trifft Entscheidungen, die wehtun, lächelnd. Schon gar nicht, wenn er das Werden (s)eines Teams so intensiv begleitet hat wie Sarah Murray. Kein Trainer schwächt seine Mannschaft wissend. 920 Eishockeyspielerinnen gibt es im Norden der Halbinsel, der WM-Vergleich mit dem Süden ging 2017 glatt 0:3 verloren. Nordkoreas Weltranglistenplatz: 25.
Wenig Zeit für ein Wir-Gefühl
Mittlerweile läuft das gemeinsame Training. Sarah Murray hat(te) zwei Wochen. Wenig Zeit für die Hinzugekommenen, ihr Spielsystem zu verinnerlichen. Wenig Zeit für alle anderen, zu akzeptieren, dass der individuelle olympische Traum so klein ist im geopolitischen Großen. Wenig Zeit, um ein neues Wir-Gefühl zu schaffen.
„Unser Team“, sagte Sarah Murray früh im Winter, „gibt nicht auf. Nie.“
Wörtlich übersetzt heißt Pyeongchang „Friede und Gedeihen“, was schön ist. Aber nicht den Ausschlag gegeben hat am 6. Juli 2011 in Durban. Um 17.18 Uhr öffnete der damalige IOC-Präsident Jacques Rogge den Umschlag. Pyeongchang, verkündete der Belgier dann, werde die Olympischen Winterspiele 2018 ausrichten. Das Ergebnis tat weh. München vor allem, das mit 27 Stimmen ebenso das Nachsehen hatte wie das französische Annecy (sieben Stimmen). Im ersten Wahlgang gleich, in dem der südkoreanische 45 000-Einwohner-Bezirk 63-mal für spieletauglich befunden wurde von der Vollversammlung des Internationalen Olympischen Komitees. Dabei hatte München Kati Witt geboten, Franz Beckenbauer war gekommen, Nachhaltigkeit garantierte die Bewerbung. Pyeongchangs Konter aber saßen: zwei gescheiterte Versuche – gegen Vancouver und Sotschi –, das stetige Bemühen danach, alle IOCWünsche zu erfüllen, die kurzen Wege, das hübsche Motto. „New Horizons“hieß es, „Neue Horizonte“– und wer dahinter das Versprechen vermutete, dass, wem auch immer, neue Wintersportmärkte erschlossen werden könnten, lag so schlecht nicht. Ach ja, der Schnee? Kein Problem, klärte