Schwäbische Zeitung (Biberach)
Von Biberach ging 1968 ein Funke aus
„Tag der Archive“nimmt Protestbewegung von vor 50 Jahren in den Blick
BIBERACH - Die Bedeutung der Archive als historisches Gewissen zu verdeutlichen, ist die Aufgabe des bundesweiten „Tags der Archive“am Sonntag gewesen. In Biberach fand dieser erstmals im neuen „Haus der Archive“(Roter Bau) statt. Im Fokus dabei: die Protestbewegung von 1968.
Biberach sei zwar nicht das Zentrum des Protests gewesen und auch nicht die Keimzelle der APO, sagte der Historiker Frank Raberg (Neresheim) in seinem sehr gut besuchten Vortrag „Zwischen Opa und APO“. Für Baden-Württemberg sei jedoch im April 1968 von Biberach „ein Funke ausgegangen, der sich mit ständig steigender Potenz über das ganze Land ausgebreitet hat“, so Raberg.
Junge Menschen demonstrieren
Er nahm dabei Bezug auf die Wahlkampfreise des damaligen Bundeskanzlers Kurt-Georg Kiesinger, die am 22. April 1968 in Biberach ihren
Anfang nahm. Im konservativen Oberschwaben habe sich der Kanzler auf sicherem Terrain gewähnt.
Dass dort auf dem Marktplatz plötzlich junge Leute mit roten Holzkreuzen demonstrierten und mit Rufen und Parolen seine Rede störten, habe ihn völlig unvorbereitet getroffen. „Noch mehr hat ihn irritiert, dass die Polizei nicht sofort eingriff, um gegen die Schreier – wie Kiesinger sie nannte – vorzugehen“, sagte Raberg.
Gesellschaft des Schweigens
Biberach habe damit den Auftakt gebildet für Proteste, die sich in den Folgetagen steigerten, bis eine Wahlveranstaltung mit Kiesinger in Heidelberg abgebrochen werden musste. Dennoch sei die Protestbewegung 1968 aus Rabergs Sicht kein Massenphänomen gewesen, wohl aber in gewisser Weise eine Initialzündung für eine politische Bewusstseinsveränderung in der Bundesrepublik. Bis zu diesem Zeitpunkt sei das Land eine Gesellschaft des Schweigens und Verdrängens gewesen.
Viele der „Zahnrädchen“, die bereits im Dritten Reich bestimmte Ämter innegehabt hätten, seien auch nach dem Krieg im Staatswesen der Bundesrepublik aktiv gewesen, ordnete Raberg die Zusammenhänge ein. „Die jungen Leute haben 1968 erstmals die Fragen gestellt, die vorher keiner gestellt hatte.“Demokratie sei ein zartes Pflänzchen, das ständig gepflegt werden müsse, appellierte der Historiker an die Zuhörer: „Es lohnt sich, dass jeder immer wieder ein bisschen dafür kämpft.“
Auch die Heimatstunde des Schützenfests wird sich in diesem Jahr mit 1968 und den Folgen auseinandersetzen. In einem Werkstattbericht gaben Dieter Maucher und Marco Moll Einblicke in ihre Quellenarbeit und die Zeitzeugen-Videointerviews, die sie dafür geführt hatten. Stadtarchivarin Ursula Maerker und Kerstin Bönsch, Geschäftsführerin der Wieland-Stiftung, führten viele Interessierte durch Stadt- und Wielandarchiv.
Den Abschluss des Tags bildete eine Lesung mit Wieland-Texten von Cornelia Sikora und Gunther Dahinten. „Zu Wielands Zeit ist die Nutzung von Archiven durch die Bürger erst möglich geworden“, sagte Kulturdezernent Jörg Riedlbauer.