Schwäbische Zeitung (Biberach)
1000 Praxen ohne Ärzte
Mediziner und Kliniken warnen vor Versorgungslücken
STUTTGART (tja) - Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) eröffnet bis zu 30 medizinische Versorgungszentren im Land, weil in den kommenden Jahren bis zu 1000 Arztpraxen schließen könnten. Das kündigte die KV am Montag in Stuttgart an.
Deren Vorsitzender Norbert Metke sagte, das könne aber nur eine Zwischenlösung sein, bis die Politik die Rahmenbedingungen vor allem für Hausärzte verbessere. „Seit 15 Jahren hat sich da nichts getan. Jetzt haben wir die Quittung, indem wir die Patienten nicht mehr auf dem Niveau wie bisher versorgen können“, so Metke. Bürger müssten sich auf weitere Anfahrtswege, längeres Warten und weniger Zeit mit einem Arzt einstellen. Rund 400 Mediziner fehlten außerdem in den Kliniken, ebenso wie 1200 Pflegekräfte.
Die Krankenkasse AOK wehrte sich gegen Dramatisierung. Die Versorgung sei trotz einiger Herausforderungen gesichert.
STUTTGART - Ärzte und Kliniken in Baden-Württemberg warnen: Aus ihrer Sicht fehlen so viele Mediziner und Pflegekräfte, dass die Versorgung der Patienten gefährdet ist. „Bürger müssen sich darauf einstellen: Weniger Zeit mit dem Arzt, längere Anfahrten und längere Wartezeiten“, sagte Norbert Metke, Vorstandsvorsitzender der kassenärztlichen Vereinigung (KVBW) am Montag. Sie vertritt die rund 20 000 niedergelassenen Mediziner in Baden-Württemberg. Welche Probleme die Experten bemängeln:
Der Ärztemangel in Zahlen
Die Kliniken im Südwesten melden 400 unbesetzte Stellen, außerdem fehlen 1200 Pflegekräfte. Rund zwei Drittel aller Klinikchefs haben nach eigenen Angaben Probleme, neue Ärzte oder Pfleger zu bekommen. Rund 500 Hausarztpraxen im Land stehen leer, weil es keine Interessenten gibt. Die KVBW rechnet damit, dass in den kommenden Jahren weitere 500 Hausärzte keine Nachfolger finden. Jeder sechste Allgemeinmediziner sei älter als 65 Jahre. Auch 120 Fachmediziner fehlen, darunter vor allem Gynäkologen, HNO- und Hautärzte. Besonders viele unbesetzte Arztsitze gibt es derzeit unter anderem in den Regionen Tuttlingen, Friedrichshafen, Sigmaringen, Laupheim und Ellwangen. Doch selbst in Landkreisen wie Ravensburg, in denen alle Sitze besetzt sind, fehlen vor allem in den kleinen Gemeinden Mediziner. Patienten müssen daher weite Wege in Kauf nehmen.
Zu viel Bürokratie
Ärzte und Pflegekräfte ächzen laut KVBW und der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG) unter einem Berg von Bürokratie. Allein eine Hausarztpraxis muss 50 verschiedene Formulare vorhalten. Der Aufwand binde Arbeitszeit, die an anderer Stelle fehle. „Wir fordern die neue Bundesregierung auf, die Bürokratie um die Hälfte zu reduzieren“, so BWKG-Chef Detlef Piepenburg. Die zahlreichen Formulare wurden eingeführt, um Leistungen von Ärzten und Pflegekräften genauer abrechnen zu können. Bis in die 1990er-Jahre bekamen Kliniken ihr Geld pauschal nach Liegetagen. Welche Leistungen erbracht wurden, war kaum transparent. Es fehlten Anreize, effizient zu arbeiten. Deswegen änderte die damalige Bundesregierung die Modalitäten. Allerdings ist das System heute sehr kleinteilig und hat andere Schwächen – so tendieren Klinken dazu, Patienten sehr früh zu entlassen.
Zu wenig Geld
„Die Kliniken sind chronisch unterfinanziert“, monierte BWKG-Chef Piepenburg. Das liegt an mehreren Gründen. Zum einen belohnt das geltende Abrechnungssystem bestimmte Eingriffe überdurchschnittlich gut. Bei schweren Fällen mit vielen einzelnen Behandlungsschritten dagegen klagen die Kliniken, dass sie vieles nicht adäquat abrechnen können oder nur mit hohem Aufwand. Auch der medizinische Fortschritt ist teuer: Heute ist vieles möglich, aber nur, wenn Spezialisten im Einsatz sind. Es braucht daher aus Sicht der KVBW mehr Ärzte pro Patient als früher, um alle medizinischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Niedergelassene Ärzte beklagen vor allem die sogenannte Budgetierung. Sie dürfen einzelne Leistungen pro Quartal nicht beliebig oft abrechnen. Hausärzte im Land kommen mit ihrem Budget aus. Fachärzte dagegen erbringen laut KVBW 16 Prozent ihrer Leistungen, ohne dafür bezahlt zu werden – weil sie aus dem vorgegebenen Budget fallen und die Krankenkassen sie nicht erstatten.
Sonderfall Baden-Württemberg
Im Südwesten werden im Vergleich zu anderen Bundesländern hohe Löhne gezahlt. Das liegt unter anderem daran, dass Ärzte und Pfleger etwa in der Schweiz deutlich mehr verdienen. Für eine Pflegekraft gibt eine Klinik in Baden-Württemberg 59 000 Euro aus, im Bundesschnitt nur 55 000. Im Vergleich zu Bundesländern im Osten bekommen Pfleger gar 10 000 Euro mehr pro Jahr. Doch die Leistungen, die diese Pfleger erbringen, vergüten die Krankenkassen mit genauso viel Geld wie überall in Deutschland. Damit zahlt die Klinik mehr, erhält aber dafür keinen Ausgleich.
Lösungen
Ärzte und Kliniken fordern die Bundesregierung auf, rasch Änderungen auf den Weg zu bringen: weniger Bürokratie, eine auskömmliche Vergütung medizinischer Leistungen und mehr Studienplätze. Die KVBW selbst hat Maßnahmen ergriffen, um Engpässe zu beseitigen. Unter anderem will sie zwischen 20 und 30 eigene Versorgungszentren im Land eröffnen – vor allem dort, wo viele Arztpraxen leer stehen.