Schwäbische Zeitung (Biberach)
Alles mit Fleiß
Martin Walsers neuer Roman „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“
RAVENSBURG - Auf Martin Walser ist Verlass. Kein Jahr ohne neues Buch. „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“heißt der Roman. Klingt nachgerade hölderlinhaft. Aber Walser hat keine Ode geschrieben, sondern Briefe an eine Adressatin, die es gar nicht gibt. Sie ist eine Erfindung. „Sie sind in mir als Wunsch-Adresse entstanden, nicht allein zu sein.“
Der, der schreibt, will etwas loswerden. Wie der Sünder im Beichtstuhl. Hofft er auf Vergebung? Nein, auf eine Erlösung von der Liebe, die ihn quält. „Ich zwischen zweien. Die eine seit Langem. Die andere noch nicht so lange. (...) Ich bin beiden treu. Wie es mehr als eine Art Liebe gibt, gibt es auch mehr als eine Art Treue. Aber: Jede will mich nur lieben, wenn ich auf die andere verzichte.“Weil er zwei Frauen liebt, die dies nicht ertragen, imaginiert er in seinem Blog eine dritte, eine virtuelle.
Ein Selbstgespräch
Das Motiv der Liebe, die nicht sein kann, weil sie nicht sein darf, durchzieht Walsers Werk wie ein roter Faden. Und auch der Form des Briefromans hat sich Walser in den vergangenen Jahren immer wieder bedient. Doch anders als bei „Die Inszenierung“(2013) oder zuletzt „Ein sterbender Mann“(2017) gibt es diesmal keine Reaktionen, keine Antworten, oder besser: der Schreibende gibt sie sich selbst. Der Blog im Netz ist ein Selbstgespräch.
Der Blogger nennt sich Justus Mall. Auf seiner Visitenkarte stehe jetzt „Philosoph“, schreibt er. „Nachdem ich mich als Jurist unmöglich gemacht hatte, erlebte ich das Missgeschick auch als eine Erleichterung.“Von diesem „Missgeschick“und wie aus Dr. Gottlieb Schall, Oberregierungsrat im bayerischen Justizministerium und zuständig für Migration, der freiberufliche Philosoph Justus Mall wurde, erfahren wir erst sehr viel später im Buch – nachdem „JM“der Unbekannten tiefste Einblicke in sein Seelen- und Liebesleben gegeben hat. „Obwohl ich mich betend nicht mehr kenne, wage ich zu empfinden, dass ich betend nie unglücklich war.“Aber dann wieder: Wie lässt sich Untreue legitimieren? Katharina die Große, Goethe, Schiller, Brecht und die Dienerin Zerbinetta ruft der Blogger in den Zeugenstand.
Walser, gerade 91 Jahre alt geworden, kommentiert auch in diesem Protokoll eines Untergangs wieder Zeitgenossen und Zeitgeschehen. Mit Ironie oft, beißendem Sarkasmus manchmal. Nicht nur, dass sich Walsers Protagonisten in ihrem technischen Equipment immer auf der Höhe der Zeit bewegen, sie geraten auch prompt in die aktuellen Debatten hinein, dieses Mal: „MeToo“.
Die Unbekannte und mit ihr das Lesepublikum erfahren, warum aus Dr. Schall Justus Mall werden musste. Der Beamte Schall geht in der Pause von „Tristan und Isolde“an die Bar, blickt auf eine „gleißende Schenkelrundung“und tippt „mit der Spitze des Zeigefingers seiner rechten Hand auf den Schenkel“einer Blondine. Er will noch eine scherzhafte Bemerkung gemacht haben. Das wird er nachher in den unzähligen Interviews, die Verhören glichen, erzählen. Aber da ist schon alles zu spät. Denn die junge Dame, deren Schenkel ihn so anzogen, war Praktikantin bei der „Süddeutschen Zeitung“– und machte eine Riesengeschichte daraus. „Altersgeilheit“sei nicht hinzunehmen, stand da, und dass Frauen geschützt werden müssten vor den „Grapschern der Altherren-Riege“.
Die Lust am Widerwort
Schall greift zu einer List. Er gibt den Vergesslichen. Das funktioniert. „So erfuhr er aus der Zeitung, dass er durch den von ihm selbst verschuldeten Skandal in einen Schock versetzt worden sei, der zu einer Krankheit geführt habe, die Alzheimer hieß.“
„Gar alles“ist ein typischer Walser: Auch auf diesen 107 Seiten scheint sie auf, diese unbändige Lust am Widerwort. Die Kritiker bekommen ihr Fett ab und auch all die, die sich im richtigen Strom mitschwimmend wähnen. In diesem Fall sind es die Trump-Gegner. Justus Mall nennt ihn einen „begrüßbaren Präsidenten“. Walser weiß, dass manche nur warten auf solche Sätze von ihm. Er macht das mit Fleiß, im Schwäbischen ein anderes Wort für absichtlich.
Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte, Roman, Rowohlt, 107 Seiten, 18 Euro. Walser liest am 18. April im Kultur- und Kongresszentrum Weingarten (Karten: 0751/405-232).