Schwäbische Zeitung (Biberach)
Auf der Suche nach dem perfekten Ei
Zu Ostern spielt es die Hauptrolle, im Alltag ist es noch immer voller Geheimnisse, die viel mit Physik zu tun haben
Wollen wir einen Augenblick mal die Frage beiseite schieben, ob jetzt das Huhn zuerst da war oder doch das Ei. Wollen wir für einen kurzen Moment ausblenden, dass das Ei die perfekte Form in der Natur ist. Und lassen wir außen vor, dass eben kein Ei wie ein Ei dem anderen gleicht, weil der einfache Blick in den Eierkarton im Supermarkt offenbart, auf welch unterschiedliche Art jedes Ei für sich die ovale Form variiert. Bleibt am Ende trotzdem die Frage: Warum ist es so schwer – oder fast unmöglich – im Alltag am Frühstückstisch Tag für Tag das perfekte Ei zu reproduzieren. Wobei festzuhalten ist, dass für fast jeden Menschen das ideale Ei ein bisschen anders ist: Eiweiß fest, Dotter flüssig? Dotter wachsweich? Dotter fest mit flüssigem Kern? Kurzum: Das Zubereiten eines Frühstückseis ist eine Wissenschaft für sich.
Professor Werner Gruber ist zum Glück Wissenschaftler. Noch dazu einer, der sich als Physiker mit den Phänomenen des Kochens und Verarbeitens von Lebensmitteln befasst. Und der Bücher schreibt mit Titeln wie: „Die Genussformel – kulinarische Physik“oder „Wer nichts weiß, muss alles glauben“. Und der Teil des Wissenschaftskabaretts „Science Busters“war. Gruber lehrt an der Universität Wien und klingt am Telefon genauso gemütlich, wie man sich das von einem Wiener Professor vorstellt. Weiß er, warum die Zubereitung eines Eis alles andere als banal ist? „Viele Leit’ können halt ned g’scheit rechnen“, sagt Gruber trocken und verweist auf eine mathematische Formel, die er gemeinsam mit einem englischen Kollegen entwickelt hat. Dabei handle es sich um ein hieb- und stichfestes Mittel, um stets das perfekt gekochte Ei zu erhalten. Was aber ist denn nun perfekt? „Schau’n, Sie: Das perfekte Ei definiert sich dadurch, dass das Eiweiß fest ist und der Dotter komplett flüssig.“Auf diese Definition habe man sich in der Küchentechnik in Abstimmung mit dem allgemeinen Geschmacksempfinden geeinigt.
Die Formel lautet „Kochzeit ist gleich 0,0016-mal Eierdurchmesser im Quadrat multipliziert mit der Logarithmusfunktion aus: zweimal Temperatur des Wassers minus Temperatur des Eis, dividiert durch die Temperatur des Wassers minus der gewünschten Temperatur des EiInneren“. Fertig.
Klingt kompliziert. „Ist es aber gar nicht“, sagt der Professor und erklärt: „Die Problematik besteht darin, dass viele Damen und Herren die Eier in kaltes Wasser legen.“Wenn es dann erhitzt werde, habe es keinen klar definierten Zeitpunkt, ab dem es kocht. „Darüber hinaus hängt dieser Zeitpunkt davon ab, wie viel Wasser im Häferl ist.“Und wie schnell das Wasser erhitzt wird, spielt auch eine Rolle. Die Eierkatastrophe sei so vorprogrammiert. „Also geben Sie die Eier immer in kochendes Wasser.“Damit sei die größte Fehlerquelle bereits eliminiert.
Aber es lauern noch mehr Fallen: „Das zweite Problem ist, de Leit’ schauen ja ned auf die Uhr“, klagt Gruber. Die exakte Kochzeit in Abhängigkeit der Eiergröße und die Frage, ob das Ei im Kühlschrank war oder nicht, sind aber entscheidend für das Gelingen. Grubers Formel dient dazu, exakt auszurechnen, wie lange es letztendlich braucht, um Perfektion zu erhalten. Wer am Morgen vielleicht noch nicht wach genug ist, um mit der Gruber’schen Eierformel zu hantieren, kann sich auch an folgende – zugegebenermaßen ungenaue weil unwissenschaftliche – Faustregel halten: Eier der Größe L bis XL benötigen fünf bis sechs Minuten, wenn sie aus der Kühlung kommen. Eine Minute weniger, wenn sie bei Zimmertemperatur gelagert wurden. Alter des Eis und minimal variierende Stärken der Eierschalen sind laut Gruber zu vernachlässigen.
Im Alltag von Küchenmeister Thomas W. Kraus vom Hotel-Restaurant Schachener Hof in Lindau spielen Eier natürlich auch eine wichtige Rolle. Zum einen, weil die Übernachtungsgäste beim Frühstücken unmöglich darauf verzichten wollen. Andererseits, weil Kraus in seinem Restaurant diverse Gerichte zubereitet, die ohne Eier nicht funktionieren. Sauce Hollandaise zum Beispiel. Der Klassiker zu Spargel. „Ungefähr 5000“, sagt Kraus, als er gefragt wird, wie viele Eier übers Jahr durch seine Hände wandern. Und der Küchenmeister widerspricht dem Physiker in einem Punkt ganz entschieden. „Natürlich haben Eier, gerade Bio-Eier, unterschiedlich dicke Schalen. Und das merken Sie auch an der Kochzeit.“Beim Aufschlagen der Eier ganz besonders, da könne es manchmal sein, dass man drei- oder viermal klopfen müsse, bis es sich öffne.
Überhaupt ist das Ei bezogen auf die Hygienevorschriften ein hochriskanter Rohstoff. „Wer Eier verarbeitet, steht fast schon mit einem Bein im Gefängnis“, scherzt der Meisterkoch. Inzwischen bietet die Industrie pasteurisierte Eier an, auch im Tetrapack. Kraus zieht die Augenbrauen hoch und schüttelt langsam den Kopf. Lange Jahre hat Kraus die Prüfungen für Meister und Gesellen abgenommen. Darum weiß er auch: Eier können zur echten Herausforderung werden. Zum Beispiel, wenn es darum geht, ein Soufflé zuzubereiten. Oder beim Pochieren, eine der elegantesten Formen der Zubereitung für ein Frühstück mit Stil. „Aber mit ein bisschen Übung bekommt man das gut hin“, sagt Thomas Kraus und geht in seine Küche.
Wenn das Eiweiß im Topf tanzt
Auf dem Herd stehen zwei große Töpfe: einer mit Salzwasser, einer mit Essigwasser. Kraus lässt ein rohes Ei vorsichtig in eine Sauciere gleiten. Dann beginnt er mit einer Fleischgabel das Essigwasser mit schnellen Drehbewegungen aufzuwirbeln. In diesen Strudel unruhigen Wassers lässt er das Ei schlüpfen. Das rasch stockende Eiweiß legt sich wie ein Schleier um den Dotter und tanzt für einen Augenblick im Topf. Der Koch nimmt die Hitze weg, fischt das Ei mit einem Schaumlöffel heraus und gibt es ins Salzwasser. Er wartet zwei Minuten, bevor er mit zartem Druck prüft, ob das weiße Oval den richtigen Punkt hat. Als es soweit ist, hebt er das Ei elegant aus dem Topf, bettet es auf kurz gedünsteten Spinat und hobelt noch etwas schwarzen Trüffel darüber. „Ganz einfach“, sagt er und grinst.
Natürlich ist es an sich kein Problem, ein Ei zum Frühstück verzehrfertig zu bekommen. Doch der Bereich der individuellen Perfektion ist eben äußerst schmal. Tatsächlich existiert sogar eine Reihe von Büchern, die sich mit nichts als dem Zubereiten von Eiern befassen – wobei Rühr- oder Spiegeleier noch die gängigsten Variationen sind. Die Wissenschaft vom Eierkochen hat noch keinen Namen. Vielleicht denkt Werner Gruber aber gerade darüber nach. „Jetzt wünsch’ ich Ihnen aber erst einmal ein frohes Osterfest“, sagt der Wiener Professor, der auch eine Abhandlung über die Frage geschrieben hat, ob man Eier vor dem Kochen anstechen soll und welche Rolle die Luft unter der Schale spielt. Aber das ist eine andere Geschichte.