Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Mancherorts leben doppelt so viele Flüchtlinge wie Bürger“
Antakyas Oberbürgermeister Savas über die Folgen des Syrienkriegs für seine Stadt – und die Furcht vor einer Eskalation in Idlib
AALEN - In Idlib bereiten sich Menschen auf das Schlimmste vor. Die Truppen von Syriens Präsident Baschar al-Assad hat den Angriff auf die letzte Hochburg der Rebellen im Nordwesten des Bürgerkriegslandes, an der türkischen Grenze, gestartet. Die Türkei hat weiteres Kriegsgerät in die Grenzregion gebracht. Die grenznahe türkische Stadt Antakya wäre den Folgen einer Eskalation in besonderem Maße ausgesetzt. Doch Antakya und die sie umgebende Provinz Hatay können keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen, sagt Oberbürgermeister Lütfü Savas von der säkularen CHP, der derzeit zu Besuch in Antakyas Partnerstadt Aalen ist. Thorsten Vaas hat mit ihm gesprochen.
Herr Savas, Antakya ist nur 50 Kilometer Luftlinie von Idlib entfernt. Wie gehen Sie mit der Nähe zum Krieg um?
Hatay leidet unter den Folgen des Kriegs in Syrien. Wir wollen nicht, dass Menschen dort sterben, denn die meisten der drei Millionen Menschen in Idlib haben nie eine Waffe in die Hand genommen. In Syrien sind seit Beginn des Krieges vor sieben Jahren Streitkräfte der Welt versammelt, die den Mittleren Osten als Trainingsplatz für ihre Militärtechnik nutzen, wobei jeder Staat damit seine eigenen Pläne verfolgt. Am Ende dieser Pläne stehen immer Menschen, die ihr Leben verlieren. Natürlich gibt es in Syrien terroristische Gruppen und radikale Elemente. Die meisten Menschen sind jedoch unschuldig. Alle direkt und indirekt Beteiligten haben Anteil an den Auswirkungen des Kriegs, vor dem rund fünf Millionen Syrer bereits in andere Länder geflohen sind. 3,5 Millionen davon befinden sich in der Türkei. Wir in Hatay beherbergen derzeit 500 000. Weder wir, noch die Türkei können weitere Menschen aufnehmen.
Der türkische Geheimdienst MIT rechnet bei einem Angriff auf Idlib mit 250 000 Flüchtlingen. Wie bereiten Sie sich darauf vor?
Wir beherbergen inzwischen 500 000 Gäste, für viele davon haben wir Siedlungen und Camps gebaut. Das waren massive Aufwendungen für Hatay. Mancherorts ist es sogar so, dass doppelt so viele Flüchtlinge wie Bürger leben. Hatay hat nicht mehr die Kraft dazu, für weitere 250 000 Menschen die Infrastruktur in der Stadt oder in einem Camp zu tragen. Es muss deshalb auf syrischer Seite eine Sicherheitszone nahe der Grenze geschaffen werden, in denen Menschen unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen und aller beteiligten Länder geschützt und versorgt werden, bis es Frieden gibt.
Wie reagieren die Menschen in Hatay darauf, dass weitere Flüchtlinge hinzukommen könnten?
Als vor sieben Jahren der Bürgerkrieg begann, war Hatays Bevölkerung sehr nervös. Sie befürchtete, dass der Bürgerkrieg von Syrien nach Hatay getragen würde, da sowohl Anhänger als auch Gegner Assads unter den Flüchtlingen waren. Gott sei dank kam es nicht dazu. In der Gesellschaft gab es keine Probleme. Die Bevölkerung hat mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn gehandelt, sie ist mit Ruhe in die Situation gegangen. Dennoch gab es eine Nervosität, die nun wieder da ist.
Wie verhindert man, dass mit den Flüchtlingen Terroristen ins Land einwandern?
Das wird nicht einfach sein. Alle beteiligten Länder hätten schon von vornherein etwas dagegen tun müssen. Terror hat keine Religion. Diese Katastrophe hat sich vor sieben Jahren bereits abgezeichnet. Doch jeder hat unter diesen Kessel einen Holzscheit gelegt, und ihn befeuert. Keiner war darauf bedacht, das Feuer zu löschen. Die Folgen dieses Krieges werden auf die ganze Welt schwappen. Früher oder später. Es trifft immer nur die unschuldige Bevölkerung.