Schwäbische Zeitung (Biberach)
Ein letztes Mal die Sonne spüren
Eröffnung des Balkons der Palliativstation im Memminger Klinikum ist für Initiatorin Heike Kahnert ein bewegender Moment
MEMMINGEN - Eine Träne rollt über Heike Kahnerts Wange. Sie steht auf dem neugebauten Balkon des Memminger Klinikums. „Mein Mann wäre so gerne bei der Eröffnung dabei gewesen“, sagt die 52-Jährige. Vor einem Jahr ist er gestorben. Er war krebskrank, lag fünfmal auf der Palliativstation und hatte einen Wunsch: „Noch einmal die Sonne auf der Haut spüren.“Tom Kahnert kämpfte neun Jahre lang gegen den Krebs. An seinem 51. Geburtstag lag er wieder einmal im Krankenhaus. An diesem Tag bildete sich draußen vor dem Fenster ein Regenbogen. Die Idee, einen Balkon zu errichten, war geboren.
Heike Kahnert schritt zur Tat: Sie wurde Mitglied im Förderverein des Klinikums, bastelte Spendenboxen, zog von Tür zu Tür und sammelte Geld. „Das war mühsam“, sagt sie. Doch es schreckte sie nicht ab. Die 52Jährige entwarf mit der Pressesprecherin des Klinikums, Eva-Maria Häfele, einen Flyer. Dadurch erreichte sie neue Spender – beispielsweise eine 80 Jahre alte Frau. Sie übergab ihr Geburtstagsgeld dem Klinikum. Das erschien in der Zeitung. „Es war wie ein Schneeballeffekt“, sagt Kahnert. Privatpersonen, Vereine und Firmen unterstützten das Projekt. Das Ziel: eine Summe von 80 000 Euro.
An diesem Nachmittag, eineinhalb Jahre nach der Idee, betritt Heike Kahnert abermals die Palliativstation. Der 30 Quadratmeter große Balkon ist fertig. Im Wohnzimmer der Station stehen die Krankenhausleitung, der Architekt und der Förderverein des Klinikums beisammen. „Vor knapp anderthalb Jahren ist Heike Kahnert auf uns zugekommen“, sagt Vereinsvorsitzender Thomas Munding. Damals habe man die Ausmaße des Projekts noch nicht erahnt: Der nun fertige Bau kostete 180 000 Euro – über die Hälfte mehr als ursprünglich gedacht.
Das hatte vor allem zwei Gründe: die Statik und den Brandschutz, sagt Helmut Schedel. „Die Fassade musste geöffnet werden“, erklärt der Architekt. Deshalb stand das Gerüst bereits Monate vor Baubeginn: für Messungen. Die ergaben, dass die Wände des Klinikgebäudes nicht exakt parallel stehen. Das wirkte sich auf die Montage des mehrere Tonnen schweren Anbaus aus. Allein ein Stahlträger wiegt 300 Kilogramm. Damit die 30 Zentimeter breiten und 1,80 Meter langen Bauteile fest in der Wand halten, verwendeten die Arbeiter längere Dübel und Spezialmörtel. Auch die untere Seite des Balkons war kostspieliger als gedacht. Dort sind spezielle Platten eingezogen – wegen der strengen Brandschutzvorschriften in öffentlichen Gebäuden.
Dach und Brüstung aus Glas
Der Balkon ist L-förmig: An der tiefsten Stelle ist er sechs Meter breit. An der schmalsten Stelle hat er eine Breite von 1,50 Meter. Der zehn Meter lange Balkon hat eine gläserne Brüstung und ein Vordach aus Glas. Auch das trieb die Kosten in die Höhe. Dem Förderverein war dieser Aspekt dennoch wichtig: So können Patienten auch bei Regen frische Luft einatmen, ins Grüne blicken und den Wind spüren. Auch die, die bettlägerig sind. Unterm Strich war der Bau letztlich etwa 10 000 Euro teurer als die eingenommene Spendensumme. Die Beteiligten hoffen, dass der fehlende Betrag noch gespendet wird. Einer davon ist der Ärztliche Direktor, Professor Albrecht Pfeiffer, der insgeheim sogar auf ein bisschen mehr hofft. Um dann den Balkon für die Patienten noch „wohnlich auszustatten“– etwa mit Tischen und Stühlen.
Der Balkon befindet sich auf der Südwestseite. Palliativpatienten können künftig von dort aus die Abendsonne genießen. An diesem Tag aber ist es trüb. Es nieselt leicht. Heike Kahnert greift nach der Hand ihrer Freundin Carola. Sie holt Luft. „Ich bin unendlich dankbar“, sagt sie. Eine dunkle Wolke schiebt sich am Krankenhaus vorbei, dahinter leuchtet der Himmel weiß. Heike Kahnert ist sich sicher: Ihr Tom schaut von oben herab und freut sich über den Balkon genauso sehr wie sie.