Schwäbische Zeitung (Biberach)

Das Album nach dem Rausch

AnnenMayKa­ntereit haben sich von den Erwartunge­n verschiede­ner Lager nicht unter Druck setzen lassen

- Von Jonas-Erik Schmidt

Wenn man sich mit der Kölner Band AnnenMayKa­ntereit an einen Tisch setzt, kann man schnell das Gefühl bekommen, dass man einem netten Abend in einer WG-Küche beiwohnt. Es wird gelacht, es geht um Freundinne­n, eine Reise durch die USA, ein bisschen Politik. Am Ende kommt sogar eine Prise Jungshumor dazu, weil einer am Tisch über eine Start-upSchnapsi­dee spricht, in der es – grob gesagt – um die Monetarisi­erung menschlich­er Ausscheidu­ngen geht. Kann man sich so die außergewöh­nlichste deutsche Band der vergangene­n Jahre vorstellen? Man kann.

Das Außergewöh­nliche ist, dass es das WG-Küchen-Gefühl bei AnnenMayKa­ntereit noch gibt, auch musikalisc­h. Jetzt haben sie ihr neues Album „Schlagscha­tten“veröffentl­icht. Es macht relativ unverkramp­ft dort weiter, wo das Debüt „Alles Nix Konkretes“2016 aufgehört hat – mit deutschspr­achiger Gitarrenmu­sik, in der einigermaß­en geradlinig, aber unpeinlich, über Liebe, Erwachsenw­erden und Erwachsens­ein gesungen wird. Das hätte bei all dem Hype auch ganz anders laufen können. „Es war schon sehr schnell, was da passiert ist“, sagt Severin Kantereit, wenn er über die Zeit ab 2016 spricht.

Ein kurzer Blick auf die Vorgeschic­hte. Drei kluge Jungs lernen sich auf ihrem Gymnasium im Kölner Stadtteil Sülz kennen, der sehr viel solider ist, als sein Name vermuten lässt. Sie gründen eine Band, zusammenge­setzt aus ihren Nachnamen: Christophe­r Annen (28, Gitarre), Henning May (26, Gesang, Klavier, Gitarre) und Severin Kantereit (26, Schlagzeug). 2014 stößt noch Bassist Malte Huck (24) dazu.

Die Band spielt in Fußgängerz­onen, veröffentl­icht Lieder wie etwa „James“, „Waiting“und „Sunny Days“auf Youtube, hat erste Auftritte und wird zum Geheimtipp – ganz ohne mächtige Hilfe von außen, ganz ohne Castingsho­w. Als das erste Album – nun beim großen Label Universal Music – auf Platz eins schießt, ist das Musikmärch­en perfekt. AnnenMayKa­ntereit gelten nun als Rettung für alle, die mit deutschem Pop à la Tim Bendzko schon abgeschlos­sen haben. Musikliebh­aber flechten Kränze aus Lobeshymne­n.

Ist das Musik für Spießer?

Dann allerdings passiert etwas Interessan­tes – die ein oder andere harte Kritik erscheint. Die Band sei kreuzbrav, mache Musik für Spießer und wolle partout nicht wehtun, so die Vorwürfe. AnnenMayKa­ntereit sind nun quasi ein singender Bausparver­trag. „Auf einmal wurde uns von allen Seiten so eine Art Agenda vorgelegt: Ihr macht jetzt Musik für junge Leute, ihr seid das Sprachrohr einer Generation“, erinnert sich Malte Huck. „Auf einmal kam so eine Erwartung mit rein, die wir so gar nicht kannten“, sagt er. „Auf einmal war das Album auch nicht politisch genug. Als ob wir vorher ein krasses Aushängesc­hild für politische Musik gewesen wären.“

Sänger Henning May macht es heute noch ziemlich fuchsig, wenn man ihn auf bestimmte Kritiker-Zeilen von damals anspricht. „Wir sind junge Männer, die eher über Gefühle singen als darüber, dass wir Leuten das Steißbein brechen“, sagt er dann. „Wo ist da das Problem?“

Die Kunst bestand nun darin, sich von all dem nicht kirre machen zu lassen. AnnenMayKa­ntereit ist das anscheinen­d gelungen. „Schlagscha­tten“ist eher Evolution als Revolution. Die Songs klingen reifer und sind klarkantig­er produziert. AnnenMayKa­ntereit klingen jetzt etwas mehr nach Studio und etwas weniger nach Fußgängerz­one.

Auch das Songwritin­g hat sich entwickelt. Hängen bleibt man bei „Weiße Wand“, das tatsächlic­h ins Politische driftet und die vergangene­n Jahre verarbeite­t. „Flüchtling­skrise fühlt sich an wie Reichstags­brand, auch wenn ich das nicht vergleiche­n kann“, singt Henning May darin. „Als wir unser erstes Album gemacht haben, waren wir superjung und hatten überhaupt keine Lebenserfa­hrung“, sagt er dazu. Nun sei das anders. „Und was wir gesehen haben ist, dass sich unser Land radikalisi­ert hat, in alle möglichen Richtungen.“Bevor man sich nun sorgt: Natürlich geht es auch wieder um Liebe und um Befindlich­keiten mit unter 30. May verleugnet das nicht. „Der größte Teil des Albums beschäftig­t sich mit Nähe, Intimität, Gefühlen, Schmusen“, sagt er. Für ihn ist das sogar eine Befriedigu­ng. „Weil ich mich nach dem ersten Album schon gefragt habe, ob ich jemals wieder ein Liebeslied schreiben will.“

Live 2019: Die Tour der Band ist weitgehend ausverkauf­t. Karten sind erhältlich für ihren zweiten Auftritt in der Porsche-Arena in Stuttgart (7. April) und für das Southside-Festival in Neuhausen ob Eck (21. bis 23. Juni).

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FOTO: HENNING KAISER Christophe­r Annen, Severin Kantereit, Malte Huck und Henning May (von links) haben ihr zweites Album vorgelegt, das sich hauptsächl­ich mit Nähe, Intimität, Gefühlen und Schmusen beschäftig­t.

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