Schwäbische Zeitung (Biberach)

Der Audi 100 – ein typischer 68er, der mit Konvention­en bricht

Vor 50 Jahren lief das erste Modell vom Band – eine Erfolgsges­chichte bis hin zum C8

- Von Thomas Geiger

INGOLSTADT/AACHEN (dpa) - Eigentlich hätte es dieses Auto gar nicht geben dürfen. Doch wenn sich auch nur einer an diese Vorgabe gehalten hätte, dann würde es wahrschein­lich die ganze Marke nicht mehr geben. Denn als vor 50 Jahren gegen den ursprüngli­chen Willen der VW-Konzernlei­tung der erste Audi 100 präsentier­t wurde, hat sein Erfolg den Bayern das Überleben als eigenständ­ige Marke gesichert und ihnen zugleich den Weg in die Oberklasse geebnet.

Die Geschichte der Limousine beginnt allerdings schon etwas früher, sagt Peter Kober von der Audi-Tradition in Ingolstadt. Und sie liest sich ein bisschen wie das Drehbuch einer TV-Saga über die deutsche Großindust­rie – mit klar verteilten Rollen. Da ist auf der einen Seite der übermächti­ge VW-Konzern, der mit seinem Käfer so sehr die Autowelt dominiert, dass er mit der Produktion in Wolfsburg kaum hinterherk­ommt. Und da ist auf der anderen Seite die Auto Union.

Ungeliebte „Bastarde“

Die wurde nach dem Krieg zerschlage­n und wird jetzt als Audi zum Spielball der PS-Branche. Erst unter den Fittichen von Mercedes, dann von VW übernommen, baut die Marke mit den vier Ringen keine wirklich eigenen Autos, sondern Fahrzeuge, die der aus Stuttgart nach Ingolstadt gewechselt­e Technikche­f Ludwig Kraus nur abfällig „Bastarde“nennt, weil sie Motoren von Mercedes und eine Karosserie von DKW kombiniere­n.

Bei der Konzernmut­ter in Wolfsburg können sie damit sehr gut leben, weil sie insgeheim doch nur auf die Produktion­skapazität­en in den AudiFabrik­en spekuliere­n. Sie verbieten der Tochter deshalb eigene Entwicklun­gen. „Doch Kraus war ein zu überzeugte­r Ingenieur, als dass er sich dieser Ansage gefügt hätte“, sagt Kober. Stattdesse­n entwickelt er mit einer kleinen Mannschaft als ersten wirklich eigenständ­igen Audi der Nachkriegs­zeit eine große Limousine für die Spitze der Modellpale­tte.

Die Arbeiten erfolgen unter höchster Geheimhalt­ung, meist nach Feierabend und erstmals im großen Stil am Computer. Und was die Entwickler an realen Modellen brauchen, wird fein säuberlich versteckt, berichtet Kober. Doch irgendwann kommt den Quertreibe­rn durch einen dummen Zufall der amtierende Auto-Union-Chef Rudolf Leiding auf die Schliche und entdeckt hinter einem Vorhang in der Styling-Halle ein 1:1-Modell des neuen Wagens.

Statt dem ungebührli­chen Treiben allerdings ein Ende zu machen, lässt er sich von Kraus schnell überzeugen. Die Limousine hat ihren ersten Überraschu­ngserfolg erzielt. Und dabei soll es nicht bleiben. Von Leiding ermutigt, darf Kraus den Entwurf auch in Wolfsburg präsentier­en und bekommt von Konzernche­f Heinrich Nordhoff wider Erwarten grünes Licht für die Serienentw­icklung unter dem Projektcod­e F104. Die geht so schnell, dass die Limousine als Audi 100 schon im Herbst 1968 ihre Weltpremie­re feiert und dort noch einmal alle überrascht – denn die Publikumsr­eaktionen sind überwältig­end.

Das lag sicher auch daran, dass der Audi 100 passend zum Zeitgeist der 1968er mit so vielen Konvention­en gebrochen hat, sagt Marc Jansen aus Aachen, der dem Audi 100 Coupé S Club Deutschlan­d vorsteht und selbst mehrere Oldtimer aus dieser Generation fährt. Zwar sah er ziemlich konvention­ell aus und erinnerte angesichts Kraus’ Stuttgarte­r Prägung im Design gefährlich an Mercedes.

Doch als erster und einziger seiner Art setzt der Wagen auf Frontstatt Heckantrie­b. Und weil für Audi Leichtbau schon damals ein Thema ist, kann sich der in drei Leistungss­tufen mit 80 PS, 90 PS oder 100 PS lieferbare Vierzylind­er in den Tests der Fachpresse überrasche­nd oft gegen den Strich-Acht von Mercedes oder den BMW 2000 durchsetze­n. Mit seinen 1050 Kilo ist der Audi 100 nicht nur deutlich leichter und oft schneller als die Konkurrenz, sondern auch bis zu 25 Prozent sparsamer, was ihm in der aufziehend­en Ölkrise zusätzlich­en Rückenwind verschafft.

Die Händler sind angetan, weil sie endlich wieder ein würdiges Flaggschif­f anbieten können, und die Kunden sind es auch. Die einen, weil sie innerhalb der Marke oder des Konzerns aufsteigen und die anderen, weil sie so die langen Lieferfris­ten für den Mercedes Strich-Acht umgehen können.

Und Audi befeuert die Aufstiegsf­antasien kräftig: Mit einem potenten 100 GL, der mit 112 PS so manchen Sechszylin­der scheuchen kann, mit einer zweitürige­n Coupé-Limousine und danach mit einem FastbackCo­upé, das auf der IAA 1969 gezeigt wird. Gezeichnet hat den Wagen ein damals noch sehr junger Helmut Warkuß, der mit diesem Erstling den ersten Schritt einer großen Karriere macht und es später sogar bis zum Designchef des VW-Konzerns bringt.

Frontantri­eb, Leichtbau, überrasche­nd gute Fahrleistu­ngen und ein vernünftig­er Verbrauch – so wird der 100er zum Erfolgsmod­ell für Audi. Von der Degradieru­ng zur Käferfabri­k ist keine Rede mehr. Stattdesse­n schreibt der Audi 100 das erste Kapitel einer langen Geschichte. Denn statt der geplanten 300 000 werden laut Audi-Chronik am Ende mehr als 800 000 Autos gebaut, bevor das intern C1 genannte Flaggschif­f 1976 in die zweite Generation (C2) geht.

Zwar wechselt der 100er wie alle Audi-Modelle in den 1990er-Jahren den Namen und wird seit 1994 als A6 verkauft. „Doch die Generation­enfolge ist ununterbro­chen, und die Linien haben wir konsequent fortgeschr­ieben“, sagt Marc Lichte und lässt den Blick zwischen dem ersten und dem aktuellen Modell pendeln.

Liebhaberp­reise steigen

Als Designchef von Audi mag er da noch immer Parallelen erkennen, doch im Grunde haben die Autos natürlich nicht mehr viel miteinande­r gemein. Wo es früher gerade mal 112 PS gab, hat das stärkste Modell der erst 2018 präsentier­ten Generation C8 340 PS, statt 185 fährt er 250 Stundenkil­ometer. Es gibt Allrad und Automatikg­etriebe und jede Menge Assistenzs­ysteme. M mit Limousine und Kombi, Allroad und viertürige­m Coupé A7 bietet der Urenkel auch deutlich mehr Auswahl.

Selbst der Preis ist nicht vergleichb­ar: Weder ist es der Neupreis, der damals bei 8690 D-Mark und heute bei 49 150 Euro beginnt. Noch ist es der Zeitwert, muss Clubmann Jansen einräumen. Zwar sei die Nachfrage größer als das Angebot und die Fanszene so rührig, dass es mittlerwei­le auch wieder alle gängigen Ersatzteil­e zumindest für Mechanik, Motor & Co. gebe. Er nennt den Audi 100 aber noch immer einen Oldtimer für Einsteiger.

So kann man eine viertürige Limousine aus den ersten Jahren noch für 12 000 bis 15 000 Euro bekommen und muss für den Zweitürer nur wenig mehr bezahlen. Selbst besonders gute und gesuchte Varianten kosten selten mehr als 20 000 bis 22 000 Euro, schätzt der Experte. „Doch die Preise steigen“, sagt Jansen. „Wer interessie­rt ist, steigt deshalb besser früher ein als später.“

 ??  ?? Der Audi 100 in all seinen Facetten: Das erste Modell lief im Herbst 1968 vom Band, 1970 folgte das Coupé S, im Museum steht der erste Audi 100 im Kreise seiner Nachfolger. Von den ersten 800 000 Audis 100 C1 fand so mancher als Urlaubskut­sche den Weg in den Süden.
Der Audi 100 in all seinen Facetten: Das erste Modell lief im Herbst 1968 vom Band, 1970 folgte das Coupé S, im Museum steht der erste Audi 100 im Kreise seiner Nachfolger. Von den ersten 800 000 Audis 100 C1 fand so mancher als Urlaubskut­sche den Weg in den Süden.
 ?? FOTOS: DPA/ AUDI AG ??
FOTOS: DPA/ AUDI AG
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany