Schwäbische Zeitung (Biberach)
In der Heimat zu Kriegsopfern geworden
Beim Zugunglück bei Warthausen vor 75 Jahren kamen zwölf Menschen ums Leben
WARTHAUSEN - Eines der schlimmsten Bahnunglücke erschütterte die Region am Dreikönigstag vor 75 Jahren: Bei Warthausen stießen damals zwei Eisenbahnzüge zusammen. Zwölf Personen kamen ums Leben, viele Menschen wurden schwerverletzt. Der Lokführer kam damals vor Gericht. Doch die tatsächliche Ursache war wohl auch eine Folge des Kriegs.
In den frühen Morgenstunden des 6. Januar 1944, kurz nach sieben Uhr, erschüttert ein dumpfer Knall das Rißtal: Am südlichen Ende des Warthauser Bahnhofs stieß der morgendliche Personenzug von Friedrichshafen nach Ulm der Öchslebahn seitlich in die Flanke. Die schwere Lokomotive zerdrückte die hölzernen Personenwagen der Schmalspurbahn wie Spielzeug. Acht Reisende waren sofort tot, von den 15 Schwerverletzten starben am Unfalltag und danach vier. Insgesamt wurden mehr als 60 Fahrgäste verletzt.
Der Bahnhofsvorsteher von Warthausen forderte rasch Hilfe an: Ärzte, Krankenwagen, Feuerwehr, Sanitätskolonnen kamen. Die beiden Hilfszüge der Reichsbahn aus Aulendorf und Ulm rückten an, ebenso die Werkfeuerwehr der damaligen Energieversorgung Schwaben aus Biberach und die Feuerwehr Warthausen. Zum Lazarett entwickelte sich das Haus des Marinebauwerkmeisters Anton Wachter, der sich auf Heimaturlaub in seinem 150 Meter entfernten Wohnhaus aufhielt. Wachter eilte selbst zur Unfallstelle, kümmerte sich gemeinsam mit Soldaten, die im Zug waren, um die Verletzten, und führte diese in seine Wohnung.
Viele Tote aus der Region
Unter den Toten waren Frauen, Männer und Jugendliche im Alter zwischen 14 und 46 Jahren, davon je drei aus Ochsenhausen und Äpfingen, zwei aus Maselheim und je eine Person aus Sulmingen, Baltringen und Laupertshausen. Die mehr als 50 Leichtverletzten stammten ebenfalls aus der direkten Umgebung von Herrlishöfen über Hattenburg bis Baltringen.
Wie in den Nazijahren und verschärft in der Kriegszeit üblich, gab es über solche Vorfälle eine fast gänzliche Nachrichtensperre. Nach der Bahnreform 1994 mit der Auflösung der Bundesbahndirektion Stuttgart gelangten jedoch Aktenbündel von historischem Interesse an das Bahnsozialwerk. Sie lassen heute noch detaillierte Rückschlüsse auf den Unfallhergang zu.
Was war es zu dem Unfall gekommen? Die 1899 gebaute Öchslebahn erreichte den Bahnhof Warthausen bekanntlich auf seiner Ostseite. In Biberach war es erwünscht, dass die Züge der Zweigbahn auf dem Bahnhofsvorplatz ankommen, damit es die Fahrgäste näher zur Stadt haben. Deshalb entstand 1900 südlich von Warthausen eine Kreuzung beider Bahnstrecken. Wie bei Gleisverzweigungen üblich, war dieser Bereich durch Signale gegenseitig gesichert und es hatte dort bis dahin nie Probleme gegeben. Der Lokführer des Zuges der Hauptstrecke überfuhr jedoch an jenem Morgen das für ihn geltende Signal, wie es hieß wegen Nebels.
Hinzu kam, dass selbst an Dreikönig der Zug überfüllt war mit Arbeitern und Schülern. Auch das war eine Folge der Zeitumstände: Wegen des „Totalen Krieges“hatte die Reichsregierung still einige kirchliche Feiertage gestrichen, so auch Dreikönig.
An jenem Tag 1944 hatte sich der Schmalspurzug zwischen der korrekten Abfahrt in Warthausen und dem Erreichen der Kreuzung plötzlich verspätet. Die Signale für den Lokalzug waren jedoch vor seiner Abfahrt ebenso korrekt auf Fahrt gestellt worden. Demzufolge gingen sie für den Südbahnzug auf Halt.
Oberlokführer Wilhelm Strübel hatte also gleich zwei Haltzeichen überfahren, das Vor- und das Hauptsignal. Erst danach, als er den Schmalspurzug erkannte, leitete er die Notbremsung ein, viel zu spät. Eine technische Einrichtung, die einen Zug beim Überfahren eines Signals notbremst, gab es zwar im Prinzip längst, allerdings nicht auf der Südbahn. Denn der Reichsbahn fehlte wegen Reparationen, Autobahnbauten, Aufrüstung und Entzug von Material und Mitarbeitern für die Front die Möglichkeit, diese technische Einrichtung einzubauen. Heute ist das längst Standard.
Lokführer verurteilt
In der Hauptverhandlung vor Gericht am 18. Juli 1944 erhielt Strübel acht Monate Gefängnis, sein Heizer vier Monate, weil er nicht bei der Beobachtung der Signale geholfen hatte. Antreten mussten die Verurteilten die Strafe nicht, es wurde Aufschub bis zum 1. Februar 1945 gewährt – weil die Reichsbahn jeden fahrfähigen Mann brauchte. Durch die Bombenangriffe in Stuttgart im Herbst 1944 gingen die Hauptakten dann unter, so dass auch die Justiz in Ulm schließlich mit leeren Händen dastand: Der amtliche Vorgang endet gegen Jahresende 1944. Wie die Eisenbahner mit ihrem Verschulden am Tod der Reisenden seelisch fertig wurden, ist nicht überliefert.
Ein Einsatzfoto einer gleichartigen Lok aus der winterlichen Kriegszeit offenbart das tatsächliche Dilemma: Eine wallende Krause aus Dampf umwölkt den Vorderteil der Lok. Ein Lokführer konnte so eigentlich kaum sehen, was auf ihn zukam. Eine solche Lok war sicherheitstechnisch betriebsuntauglich. Das wussten offenbar alle Beteiligten – aber vor der Fahrt wehrte sich offenbar niemand und hinterher sprach es niemand an. Denn weder Bahndirektion noch Gericht hätten leitende Bahnmitarbeiter deshalb verurteilt. Es herrschte Krieg: Die Lokomotiven mussten laufen.
1944 stand Deutschland im sechsten Kriegsjahr. Die körperliche und seelische Belastung und die Abnutzung des Materials mit mangelhafter und fehlender Reparatur mussten ihre Spuren hinterlassen. In der Nacht herrschte ständig vorgeschriebene Verdunkelung, die Lokomotiven mussten ihre Lampen fast löschen und aus keinem Wagenfenster durfte ein Lichtschein dringen. Auch die Beleuchtung des Weichenfelds in Warthausen war aus diesem Grund – wie überall – außer Betrieb. Andernfalls hätten beide Lokführer den jeweils anderen Zug wohl wesentlich früher erkannt. So stieg schon generell in ganz Deutschland die Zahl schwerer Betriebsunfälle während des Krieges stetig an. Auch Zivilisten, Bahnreisende, gehörten zu den ständigen unschuldigen Opfern – mitten in der Heimat.