Schwäbische Zeitung (Biberach)
Schwester bietet Häftlingen ihr Vertrauen
Die Franziskanerin ist Seelsorgehelferin in der Justizvollzugsanstalt in Stammheim
BAD SAULGAU - Wuchtige Türen, schwere Gitter, Türschlösser in allen Variationen, Kameraüberwachung auf Schritt und Tritt – an all das hat sich Schwester Vera Perzi schnell gewöhnt. Die Franziskanerin von der Klostergemeinschaft Sießen arbeitet seit rund einem halben Jahr als Seelsorgehelferin in der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Stuttgart-Stammheim. Eine anspruchsvolle und fordernde Aufgabe. Für die Franziskanerin auch eine rundweg erfüllende.
Die JVA ist leicht zu finden. Von der U-Bahn-Endstation Stammheim ist es nur ein kleiner Fußmarsch. Bald zeigt sich der massige Gebäudekomplex, der in der Vergangenheit um drei weitere Haftgebäude erweitert wurde und aktuell mit rund 800 männlichen Gefangenen belegt ist, die meisten davon in Untersuchungshaft. Etwa 100 sind Jugendliche. Auf Frauen trifft man hier nur im Rahmen von Gefangenentransporten, wenn Stammheim als Zwischenstation fungiert.
Das Büro von Schwester Vera wirkt trotz vergitterter Fenster freundlich und hell. Auf dem Weg dorthin hängen Infotafeln an den Wänden. Zu den großen Weltreligionen etwa, aber auch Zitate wie zum Beispiel „Der Mensch der Gier verliert seine Seele – das, was ihn zum Menschen macht“. Doch viel wichtiger als das, was an den Wänden zu lesen ist, sind die Gespräche, die Schwester Vera mit den Inhaftierten führt, oder die Gottesdienste, die sie gemeinsam feiern. Davon gibt es viele. Die sind bei den Gefangenen so begehrt, dass es Wartelisten gibt. In ihrem Büro lehnt eine Gitarre an der Wand. Daneben steht ein kleiner Puppenwagen, Spiel- und Malzeug. „Für die Kinder der Inhaftierten, damit sie sich bei den Besuchen ein bisschen wohler fühlen“, sagt die Franziskanerin. Die von ihr selbst gemalten, großformatigen und farbintensiven Bibelszenen an den grauen Betonwänden versprühen Lebensfreude. Auf dieselbe Weise, wie es Schwester Vera in diesen tristen Gefängnistrakten jeden Tag tut.
Gleich hinter ihrem Schreibtisch stehen Bücher – ebenfalls zum Ausleihen. „Wenn kein Wunder passiert, sei selbst eins“lautet der Titel eines Buches von Nick Vujicic. Es steht ganz vorne im Regal, ist damit ein Blickfang und sagt viel über die Arbeit der Franziskanerin hier aus. Und gleichzeitig über das ganze ökumenische Seelsorgeteam. „Gott ist in jedem Menschen“, sagt Schwester Vera. Und daran gibt es für sie nichts zu rütteln. Mit vollkommener Akzeptanz und „einem Angebot des Vertrauens“begegnet sie den Menschen hier von Anfang an, schafft zunächst eine Beziehungsebene. „Wenn mein Gegenüber merkt, dass er mir wirklich wichtig ist, dann bewegt sich etwas, dann kann ich fast Prophetisches tun“, sagt sie. „Jeder ist mir wichtig, einfach, weil es ihn gibt.“
Elf Jahre hat die Ergotherapeutin und systemische Familientherapeutin mit Zusatzausbildungen in Heilund Gestaltpädagogik in einer Einrichtung der Jugendhilfe gearbeitet. Derlei Erfahrungen sind für ihre jetzige Tätigkeit Gold wert. Dabei hat sie unter anderem gelernt, „rauszukitzeln, worum es geht“. Auf Bindungsstörungen etwa trifft sie bei den Inhaftierten gehäuft. Zuhören, sich Zeit nehmen, nachfragen und wieder zuhören – und dabei versuchen zu verstehen, was für eine Not dahinter steckt, wenn jemand angeklagt ist, Gewalt angewendet zu haben, betrogen, misshandelt oder mit Drogen gehandelt zu haben, das gehört zu ihrer täglichen Arbeit. „Während die einen richtiggehend geschockt sind, weinen und einsichtig sind, sind andere wütend und sich keiner Schuld bewusst“, sagt Schwester Vera.
Es sind die unterschiedlichsten Schicksale, Dramen und Lebensgeschichten, denen sie begegnet. Und die sie tief im Innern berühren. Besonders dann, wenn „es einer draußen geschafft hat“, nachdem er vorher schon mit Polizei und Justiz in Berührung gekommen war. Und der dann doch wieder straffällig wird und seinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz verliert.
Dann gebe es „völlig verlorene Flüchtlinge“, die die Sprache nicht verstehen, „Heimweh haben bis zum Abwinken“und keinerlei Zukunftsperspektiven sehen. „Es gibt ihn eben nicht, den Gewalttäter, der nie Opfer war, oder den Dieb ohne eine entsprechende Geschichte dahinter“, sagt Schwester Vera. Da stecke immer Verzweiflung dahinter. Etwa, „wenn einer als Kind oder Jugendlicher regelmäßig geschlagen wurde oder zur Strafe über mehrere Tage im Keller eingesperrt war oder vielfach missbraucht wurde“. „Und die Flüchtlinge schauen auf ein jahrelanges Elend in ihrer Kindheit zurück, mussten bei Morden zuschauen oder zerfetzte Leichen beerdigen“, beschreibt die Franziskanerin Auszüge aus den Lebensgeschichten der Inhaftierten.
Menschen danken in Briefen
Sie betet täglich für sie alle und ist überzeugt, dass sie die „Spuren Gottes“in ihnen finden wird. Da ist hin und wieder auch Humor ganz wichtig. Oder Klartext zu reden, ohne irgendetwas zu beschönigen. „Auch dann müssen sie spüren, dass sie mir wichtig sind“, so Schwester Vera. Dass das Früchte trägt, ist Briefen zu entnehmen, die an sie gerichtet sind. „Sie haben mir meine Ehre zurückgegeben“, ist da unter anderem zu lesen. Oder sie wird einfach in den Arm genommen, mit Tränen in den Augen.
Der Knast sei „eine harte Schule“, der sich die Inhaftierten stellen müssen. Egal, ob sie traurig sind oder wütend – sie sitzen in ihren Zellen und müssen in einem ersten Schritt lernen, sich zurückzunehmen, sich selbst zu kontrollieren, sich selbst auszuhalten ohne Drogen. Und in einem nächsten Schritt sich dem stellen, was danach kommt. Ängste etwa, oder pure Aggression. Wegrennen geht nicht.
Neben dem Seelsorgeteam gibt es Unterstützung von Psychologen, Sozialarbeitern, Pädagogen und Ärzten. Auch externe Betreuung wird angeboten, etwa von Suchtberatungsstellen oder der Evangelischen Gesellschaft.