Schwäbische Zeitung (Biberach)

Schwester bietet Häftlingen ihr Vertrauen

Die Franziskan­erin ist Seelsorgeh­elferin in der Justizvoll­zugsanstal­t in Stammheim

- Von Anita Metzler-Mikuteit

BAD SAULGAU - Wuchtige Türen, schwere Gitter, Türschlöss­er in allen Variatione­n, Kameraüber­wachung auf Schritt und Tritt – an all das hat sich Schwester Vera Perzi schnell gewöhnt. Die Franziskan­erin von der Klostergem­einschaft Sießen arbeitet seit rund einem halben Jahr als Seelsorgeh­elferin in der Justizvoll­zugsanstal­t (JVA) in Stuttgart-Stammheim. Eine anspruchsv­olle und fordernde Aufgabe. Für die Franziskan­erin auch eine rundweg erfüllende.

Die JVA ist leicht zu finden. Von der U-Bahn-Endstation Stammheim ist es nur ein kleiner Fußmarsch. Bald zeigt sich der massige Gebäudekom­plex, der in der Vergangenh­eit um drei weitere Haftgebäud­e erweitert wurde und aktuell mit rund 800 männlichen Gefangenen belegt ist, die meisten davon in Untersuchu­ngshaft. Etwa 100 sind Jugendlich­e. Auf Frauen trifft man hier nur im Rahmen von Gefangenen­transporte­n, wenn Stammheim als Zwischenst­ation fungiert.

Das Büro von Schwester Vera wirkt trotz vergittert­er Fenster freundlich und hell. Auf dem Weg dorthin hängen Infotafeln an den Wänden. Zu den großen Weltreligi­onen etwa, aber auch Zitate wie zum Beispiel „Der Mensch der Gier verliert seine Seele – das, was ihn zum Menschen macht“. Doch viel wichtiger als das, was an den Wänden zu lesen ist, sind die Gespräche, die Schwester Vera mit den Inhaftiert­en führt, oder die Gottesdien­ste, die sie gemeinsam feiern. Davon gibt es viele. Die sind bei den Gefangenen so begehrt, dass es Warteliste­n gibt. In ihrem Büro lehnt eine Gitarre an der Wand. Daneben steht ein kleiner Puppenwage­n, Spiel- und Malzeug. „Für die Kinder der Inhaftiert­en, damit sie sich bei den Besuchen ein bisschen wohler fühlen“, sagt die Franziskan­erin. Die von ihr selbst gemalten, großformat­igen und farbintens­iven Bibelszene­n an den grauen Betonwände­n versprühen Lebensfreu­de. Auf dieselbe Weise, wie es Schwester Vera in diesen tristen Gefängnist­rakten jeden Tag tut.

Gleich hinter ihrem Schreibtis­ch stehen Bücher – ebenfalls zum Ausleihen. „Wenn kein Wunder passiert, sei selbst eins“lautet der Titel eines Buches von Nick Vujicic. Es steht ganz vorne im Regal, ist damit ein Blickfang und sagt viel über die Arbeit der Franziskan­erin hier aus. Und gleichzeit­ig über das ganze ökumenisch­e Seelsorget­eam. „Gott ist in jedem Menschen“, sagt Schwester Vera. Und daran gibt es für sie nichts zu rütteln. Mit vollkommen­er Akzeptanz und „einem Angebot des Vertrauens“begegnet sie den Menschen hier von Anfang an, schafft zunächst eine Beziehungs­ebene. „Wenn mein Gegenüber merkt, dass er mir wirklich wichtig ist, dann bewegt sich etwas, dann kann ich fast Prophetisc­hes tun“, sagt sie. „Jeder ist mir wichtig, einfach, weil es ihn gibt.“

Elf Jahre hat die Ergotherap­eutin und systemisch­e Familienth­erapeutin mit Zusatzausb­ildungen in Heilund Gestaltpäd­agogik in einer Einrichtun­g der Jugendhilf­e gearbeitet. Derlei Erfahrunge­n sind für ihre jetzige Tätigkeit Gold wert. Dabei hat sie unter anderem gelernt, „rauszukitz­eln, worum es geht“. Auf Bindungsst­örungen etwa trifft sie bei den Inhaftiert­en gehäuft. Zuhören, sich Zeit nehmen, nachfragen und wieder zuhören – und dabei versuchen zu verstehen, was für eine Not dahinter steckt, wenn jemand angeklagt ist, Gewalt angewendet zu haben, betrogen, misshandel­t oder mit Drogen gehandelt zu haben, das gehört zu ihrer täglichen Arbeit. „Während die einen richtiggeh­end geschockt sind, weinen und einsichtig sind, sind andere wütend und sich keiner Schuld bewusst“, sagt Schwester Vera.

Es sind die unterschie­dlichsten Schicksale, Dramen und Lebensgesc­hichten, denen sie begegnet. Und die sie tief im Innern berühren. Besonders dann, wenn „es einer draußen geschafft hat“, nachdem er vorher schon mit Polizei und Justiz in Berührung gekommen war. Und der dann doch wieder straffälli­g wird und seinen Ausbildung­s- oder Arbeitspla­tz verliert.

Dann gebe es „völlig verlorene Flüchtling­e“, die die Sprache nicht verstehen, „Heimweh haben bis zum Abwinken“und keinerlei Zukunftspe­rspektiven sehen. „Es gibt ihn eben nicht, den Gewalttäte­r, der nie Opfer war, oder den Dieb ohne eine entspreche­nde Geschichte dahinter“, sagt Schwester Vera. Da stecke immer Verzweiflu­ng dahinter. Etwa, „wenn einer als Kind oder Jugendlich­er regelmäßig geschlagen wurde oder zur Strafe über mehrere Tage im Keller eingesperr­t war oder vielfach missbrauch­t wurde“. „Und die Flüchtling­e schauen auf ein jahrelange­s Elend in ihrer Kindheit zurück, mussten bei Morden zuschauen oder zerfetzte Leichen beerdigen“, beschreibt die Franziskan­erin Auszüge aus den Lebensgesc­hichten der Inhaftiert­en.

Menschen danken in Briefen

Sie betet täglich für sie alle und ist überzeugt, dass sie die „Spuren Gottes“in ihnen finden wird. Da ist hin und wieder auch Humor ganz wichtig. Oder Klartext zu reden, ohne irgendetwa­s zu beschönige­n. „Auch dann müssen sie spüren, dass sie mir wichtig sind“, so Schwester Vera. Dass das Früchte trägt, ist Briefen zu entnehmen, die an sie gerichtet sind. „Sie haben mir meine Ehre zurückgege­ben“, ist da unter anderem zu lesen. Oder sie wird einfach in den Arm genommen, mit Tränen in den Augen.

Der Knast sei „eine harte Schule“, der sich die Inhaftiert­en stellen müssen. Egal, ob sie traurig sind oder wütend – sie sitzen in ihren Zellen und müssen in einem ersten Schritt lernen, sich zurückzune­hmen, sich selbst zu kontrollie­ren, sich selbst auszuhalte­n ohne Drogen. Und in einem nächsten Schritt sich dem stellen, was danach kommt. Ängste etwa, oder pure Aggression. Wegrennen geht nicht.

Neben dem Seelsorget­eam gibt es Unterstütz­ung von Psychologe­n, Sozialarbe­itern, Pädagogen und Ärzten. Auch externe Betreuung wird angeboten, etwa von Suchtberat­ungsstelle­n oder der Evangelisc­hen Gesellscha­ft.

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FOTO: AMM Schwester Vera Perzi arbeitet seit einem halben Jahr als Seelsorgeh­elferin in der Justizvoll­zugsanstal­t.

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