Schwäbische Zeitung (Biberach)
Europäer
Seit dem Brexit-Referendum fürchten viele Briten um ihre persönliche Freizügigkeit. So auch der Bariton und Cellist Simon Wallfisch. Ein halbes Jahr nach der Entscheidung zum EU-Austritt hat er die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt und inzwischen erhalten. Ermöglicht hat ihm das Artikel 116 Absatz 2 des Grundgesetzes, der Familienangehörigen und Nachfahren von HolocaustÜberlebenden und Flüchtlingen vor dem Nazi-Terror das Recht auf einen deutschen Pass gibt. Wallfisch ist der Enkel der Auschwitz-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch (93), die am Holocaust-Gedenktag 2018 im Deutschen Bundestag über das unermessliche Leid von Millionen Juden sprach.
„Ich bin als Europäer geboren, und ich möchte das bleiben“, sagte der 36-Jährige kürzlich im ARD-Interview. Es sei ein „Glück“, sich in Europa frei bewegen, arbeiten und studieren zu können, so Wallfisch, der beim Studium in Berlin und Leipzig Deutsch gelernt hat. „Und dann plötzlich kommt irgendeine willkürliche Wahl, und dann wird das weggenommen. Das können wir nicht akzeptieren.“
Dass viele Briten offenbar ähnlich denken, zeigen die Zahlen. Der deutsche Pass wurde laut BBC-Recherchen 2017 am häufigsten vergeben: 7493-mal – gegenüber nur 546-mal 2015.
2015 beriefen sich im Rahmen der sogenannten Wiedergutmachung 43 Briten auf den Passus im Grundgesetz. 2016 stieg die Zahl der Wiedereinbürgerungen aus Großbritannien schon auf 684; fast alle Anträge gingen nach dem Brexit-Referendum vom 23. Juni ein. 2017 erhielten 1667 Briten dank der Wiedergutmachung einen deutschen Pass; der Großteil von ihnen Juden – wie Simon Wallfisch.
Anita Lasker-Wallfisch sieht den Schritt ihres Enkels pragmatisch. Simon sei zwar in England geboren; „aber sein Background ist nicht englisch“, sagte sie. „Er ist Sänger und hat die deutsche Sprache gelernt. Er ist einfach Europäer.“Ihr Enkel gibt sich entspannt: Für ihn zeige sein Griff zum deutschen Pass nur, „wie blöd diese Brexit-Geschichte ist“. (KNA)