Schwäbische Zeitung (Biberach)
Nun droht das Chaos
Im Gegensatz zu den Behauptungen der Brexit-Hardliner hat auch die Europäische Union kein Interesse an einem ungeregelten Austritt der Briten. Verhandlungsführer Michel Barnier malte die Folgen gestern Morgen vor dem Europäischen Parlament in Straßburg nochmals in den schwärzesten Farben: In allen Bereichen, wo das Austrittsabkommen auf 600 Seiten Übergangsregelungen bis zu einem neuen Partnerschaftsvertrag vorsieht, würde Chaos herrschen – mit negativen Folgen nicht nur für die britische Bevölkerung, sondern auch für die Menschen auf dem Kontinent.
Von einem Tag auf den anderen fielen die in Großbritannien lebenden EU-Bürger in ein rechtliches Vakuum. Gemeinschaftliche Forschungsund Infrastrukturprojekte müssten ebenso gestoppt werden wie die Zusammenarbeit von Justizund Geheimdiensten und die britische Mitgliedschaft in den entsprechenden Gremien. Zwar gehen alle Prognosen davon aus, dass die britische Wirtschaft und der Alltag der dortigen Bevölkerung deutlich stärker beeinträchtigt sein werden als umgekehrt. Doch auch die Kontinentaleuropäer werden nach einem ungeregelten Austritt zu spüren bekommen, wie eng die Waren-, Dienstleistungs- und Finanzströme im Binnenmarkt verwoben sind. Lieferengpässe in zahlreichen Branchen werden nicht auf sich warten lassen.
Was also liegt näher, als die Frist bis zum Austritt großzügig zu verlängern, bis endlich ein für alle Seiten tragbarer Kompromiss gefunden ist? Die EU hat eine lange Tradition darin, die Uhr einfach anzuhalten und in Nachtsitzungen alle Beteiligten so lange zu zermürben, bis das scheinbar Unmögliche doch geschafft wurde. Beim Brexit aber sind nicht die Regierungen am Zug, sondern die Abgeordneten in Westminster. Deren Gründe, den Deal abzulehnen, sind so widersprüchlich, dass es keinen Kompromiss geben kann, der alle zufriedenstellt. Vor allem aber steht Ende Mai die Europawahl an. Die frei werdenden Sitze der britischen Abgeordneten wurden längst neu verteilt. Dieser Ausweg ist somit auf jeden Fall blockiert.
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