Schwäbische Zeitung (Biberach)
Düstere Brexit-Prognosen und Pop-Zitate
EU-Abgeordnete sagen, was sie von Briten erwarten – „Offene Arme“bei Brexit-Ausstieg
BRÜSSEL - Am Morgen nach Theresa Mays verheerender Abstimmungsniederlage füllten sich die Mailboxen der Brüsseler Korrespondenten mit finsteren Zukunftsprognosen. Der Europaabgeordnete und Arzt Peter Liese (CDU) wies darauf hin, dass ein harter Brexit gleichzeitig den Austritt aus dem Euratomvertrag bedeute. „Aus technischen und Sicherheitsgründen“sei es für die Briten unmöglich, die für die Krebsbehandlung benötigten Isotope in Zukunft selbst herzustellen. Mehrere Wirtschaftsverbände warnten vor den verheerenden ökonomischen Folgen eines ungeregelten Austritts.
Bei der Debatte im Europaparlament hingegen überwog die Melancholie. Syad Kamall aus Theresa Mays Tory-Partei bedankte sich für die Fairness der europäischen Partner und äußerte die Befürchtung, dass ihre Geduld nun noch ein Weilchen länger strapaziert werden könnte. Man möge die Ängste seiner Landsleute verstehen, die nicht in der Endlosschleife einer Zollunion gefangen bleiben wollten. Um diese Furcht zu erläutern, zitierte er den Eagles-Song „Hotel California“: Du kannst auschecken, wann immer Du willst – gehen aber kannst Du nie.
Wider die Rosinenpickerei
Frans Timmermans, Kommissionsvize und sozialdemokratischer Spitzenkandidat für den Kommissionsvorsitz, konterte mit dem Rolling Stones-Klassiker „You can‘t always get what you want“: „Du kannst nicht immer bekommen, was Du willst, aber wenn Du Dich anstrengst, bekommst Du vielleicht was Du brauchst.“
An die Adresse Kamalls, der Nachbesserungen im Austrittsabkommen verlangt, sagte er: „Sie können nicht erwarten, beim Austritt alles, was Sie an der EU wertvoll finden, zu behalten – ganz egal, welchen Effekt das auf die in der Union verbleibenden Menschen hätte.“Nigel Farage von der Brexitpartei UKIP bescheinigte er, seine „Luftschlösser neu erstarkter nationaler Souveränität“auf dem Rücken der irischen Bevölkerung zu bauen. „Als Europäer haben wir eine gemeinschaftliche Verantwortung dafür, dass der Frieden auf der irischen Insel erhalten bleibt. Es ist doch unfassbar, dass niemand in den 27 Hauptstädten es zulassen will, dass Irland unter die Räder kommt, während sich die Abgeordneten in Westminster um dieses Problem nicht zu scheren scheinen“, schimpfte Timmermans.
Quer durch die Parteien waren sich die Redner darin einig, dass es nun Aufgabe des britischen Unterhauses sei, sich auf ein neues Angebot gegenüber der EU zu verständigen und dafür auch eine parlamentarische Mehrheit zu organisieren. Mehrere Abgeordnete griffen die Überlegung des Labourführers Jeremy Corbyn auf, der den dauerhaften Verbleib Großbritanniens in der Zollunion als Möglichkeit ins Spiel gebracht hatte. Man werde jeden Vorschlag für eine Zusammenarbeit, die enger sei als im ursprünglichen Austrittsabkommen, sehr gern aufnehmen und Britannien mit offenen Armen empfangen, sollte der Austrittsantrag zurückgezogen werden.
Verhofstadt gegen neue Frist
Der liberale Fraktionschef Guy Verhofstadt erinnerte daran, dass die ursprüngliche Idee für ein Brexitreferendum aus einem parteiinternen Machtkampf der Torys erwachsen war. „Wir werden nicht zulassen, dass die britische Auseinandersetzung in unsere europäische Politik importiert wird.“Eine Verlängerung der Austrittsfrist bis nach den Europawahlen sei für alle Beteiligten schlecht und steigere die Verunsicherung in der Wirtschaft und bei den Menschen. Sollte das Unterhaus eine engere Anbindung an die EU anstreben als ursprünglich geplant, sei das Europaparlament dazu bereit.
Verhandlungsführer Michel Barnier fasste noch einmal zusammen, was auf dem Spiel steht: Planungssicherheit für Unternehmen und bei EU-finanzierten Projekten in Großbritannien, Sicherheit in Irland, Zusammenarbeit in der Forschung, der Terrorbekämpfung, bei Polizei und Justiz. Er scheint darauf zu setzen, dass das Unterhaus in einer weiteren Abstimmung den „Deal“doch noch absegnen wird. Den Abgeordneten aber sagte er: „Wir verstärken die Anstrengungen, um uns auf einen ungeregelten Austritt vorzubereiten. Machen Sie sich bereit, in sehr kurzer Zeit Notfallmaßnahmen zu beschließen, damit kein juristisches Vakuum entsteht.“