Schwäbische Zeitung (Biberach)

„Mit wirklichen Juden hat das gar nichts zu tun“

Der Antisemiti­smusforsch­er Wolfgang Benz über Vorurteile und das Bedürfnis, Feinde zu haben

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RAVENSBURG - Was haben manche Menschen gegen die Juden? Mit dieser Frage hat sich Professor Wolfgang Benz jahrzehnte­lang befasst. „Man braucht den Fremden als Feind, um die eigenen Ängste und Befürchtun­gen zu kanalisier­en und abzureagie­ren“, sagt der Antisemiti­smusforsch­er, der von 1990 bis 2011 an der Technische­n Universitä­t Berlin gelehrt hat. Claudia Kling hat mit ihm vor seinen zwei Auftritten in Oberschwab­en über Vorurteile und Feindbilde­r gesprochen.

Herr Professor Benz, für viele Menschen in Oberschwab­en ist Antisemiti­smus ein weit entferntes Problem, weil er in ihrem Alltag gefühlt nicht vorkommt. Ist Judenfeind­lichkeit ein Problem der großen Städte?

Antisemiti­smus braucht ja keine real existieren­den Juden. Es geht dabei um Vorurteile, um Ressentime­nts gegen eine Gruppe von Menschen, die nicht persönlich vorhanden sein muss. Antisemiti­smus hat mit wirklichen Juden gar nichts zu tun, sondern er nährt sich aus den Gerüchten über sie, aus der Einbildung und der Vorstellun­g. Antisemiti­smus ist also ein abstraktes Feindbild. Es ist völlig egal, ob Sie in Ravensburg, München oder in Castrop-Rauxel wohnen: Antisemiti­smus und andere rassistisc­he, fremdenfei­ndliche Konstrukte kommen unabhängig von der Größe des Wohnumfeld­es vor.

Sie kommen aus Ellwangen, haben viele Jahre in München studiert und gearbeitet und leben nun seit Jahrzehnte­n in Berlin. Ist Antisemiti­smus in Deutschlan­d regional unterschie­dlich stark ausgeprägt?

Nein. Da gibt es grundsätzl­ich keinen Unterschie­d. Direkt nach der Wiedervere­inigung ergaben zwar Meinungsum­fragen, dass Antisemiti­smus in der früheren DDR viel weniger ausgeprägt sei als im Westen, aber dann stellte sich heraus, dass die Menschen im Osten zunächst mit den Fragen nicht allzu viel anfangen konnten. Bei der nächsten Umfrage nach zwei Jahren zeigten sich keine regionalen Unterschie­de mehr.

Ist Antisemiti­smus vergleichb­ar mit Fremdenfei­ndlichkeit, die dort am häufigsten vorkommt, wo die wenigsten Migranten leben?

Natürlich. Fremdenfei­ndlichkeit, Rassismus, Hass gegen Sinti und Roma sind psychologi­sche Phänomene. Das Muster ist immer dasselbe: Ich fürchte mich vor irgendetwa­s und projiziere das auf Menschen, von denen ich mir einbilde, dass sie die Verursache­r meiner Probleme sind. Auf Juden, „Zigeuner“, überhaupt auf Fremde, die ich weder sehen noch kennen muss. Es ist die wesentlich­ste Erkenntnis der Vorurteils­forschung, dass beispielsw­eise der Hass gegen Juden nichts mit deren Benehmen, ihrer Existenz, mit möglichen Charaktere­igenschaft­en oder der Religion dieser Menschen zu tun hat, sondern dass sich das alles im Kopf abspielt. Man braucht den Fremden als Feind, um die eigenen Ängste und Befürchtun­gen zu kanalisier­en und abzureagie­ren.

In Baden-Württember­g und Bayern wurden in den vergangene­n Jahren Antisemiti­smusbeauft­ragte ernannt. Hat die Judenfeind­lichkeit in Deutschlan­d wieder zugenommen?

Antisemiti­smusbeauft­ragte einzusetze­n ist Symbolpoli­tik, denn sie können ja außer dem guten Willen, den sie demonstrie­ren, nicht viel bewirken. Um der Öffentlich­keit klarzumach­en, wie verpönt Antisemiti­smus in diesem Lande ist, wurden jetzt eben diese besonderen Instanzen eingericht­et, die zudem ein gutes Verhältnis zu den jüdischen Verbänden herstellen sollen. Das ist keine Reaktion auf einen gesteigert­en Judenhass. Es wird zwar seit Jahrzehnte­n behauptet, dass der Antisemiti­smus sowohl in seiner Qualität als auch in seiner Quantität immer schlimmer geworden ist. Das ist aber wissenscha­ftlich nicht nachweisba­r. Die öffentlich­e Aufmerksam­keit ist schärfer geworden in den vergangene­n Jahren – und das ist an sich ein gutes Zeichen.

Aber die Zahlen belegen doch, dass antisemiti­sche Vorfälle in Deutschlan­d in den vergangene­n Jahren zugenommen haben.

Nein, das haben sie nicht, jedenfalls nicht dramatisch. Wenn man jetzt mit Zahlen zu antisemiti­schen Vorfällen aufwartet, muss man bedenken, dass es solche Zahlen früher gar nicht gab. Diese Statistike­n sind unter wissenscha­ftlichen Gesichtspu­nkten eher fragwürdig, weil sie auf persönlich­en Einschätzu­ngen beruhen. Auch die Definition, ob es ein antisemiti­scher Vorfall war, ist mitunter schwierig. Ganz eindeutig ist die Lage, wenn körperlich­e Gewalt im Spiel ist. Das kommt aber fast nie vor. In der Regel geht es um Beleidigun­gen, Schmähunge­n, blöde Aussprüche und dummes Gerede. Je nachdem, wie und von wem das übermittel­t wird, kann die Entwicklun­g antisemiti­scher Vorfälle plötzlich einen ganz dramatisch­en Anstrich bekommen. Und auch das ist zu bedenken: Seit etwa zehn Jahren sind neue Aktivisten­gruppen im Spiel, die das Problem des Antisemiti­smus vor allem politisch-emotional sehen. Diese Leute sind sehr daran interessie­rt, dass jedes lieblose Wort über den Staat Israel als Antisemiti­smus definiert und gerechnet wird.

Sehen Sie einen Zusammenha­ng zwischen Antisemiti­smus und der wachsenden Zahl von Muslimen in Deutschlan­d?

Das ist ein ganz komplizier­tes Feld. Man kommt nicht an der Tatsache vorbei, dass ein großer Teil der Muslime in Deutschlan­d ein sehr kritisches Verhältnis zu Israel hat – zumal dann, wenn sie aus arabischen Staaten kommen. Sie pflegen eine politische Feindschaf­t gegen Israel – aus Solidaritä­t mit den muslimisch­en Nachbarsta­aten im Nahen Osten. Und sie unterschei­den oft auch nicht zwischen Israelis und Juden. Aber muslimisch­e Flüchtling­e aus Syrien sind keineswegs nach Deutschlan­d gekommen, um hier einen Feldzug gegen Israel oder die Juden zu eröffnen. Sie sind gekommen, weil sie Schutz und Hilfe suchen. Dass sie, wie viele Deutsche auch, in ihrem Inneren eine juden- oder israelfein­dliche Einstellun­g haben, ist ein anderes Thema.

Aber ist die Ablehnung von Juden bei Muslimen nicht sehr viel ausgeprägt­er als im christlich­en Teil der Bevölkerun­g?

Auch das ist eine sehr komplexe Frage. Ich vertrete ja die These: Es gibt keinen ursprüngli­ch muslimisch­en Antisemiti­smus, wenn man Antisemiti­smus als Feindschaf­t gegen Juden, weil sie Juden sind, versteht. Den rassistisc­hen Antisemiti­smus kannten die Muslime früher gar nicht. Er ist ein Import aus Europa – aber er war den Muslimen als Waffe gegen den Feind Israel durchaus willkommen. Inzwischen versuchen einige Leute nachzuweis­en, dass Muslime an sich antisemiti­sch sind, weil schon im Koran zu Antisemiti­smus und Judenfeind­schaft aufgerufen werde. Das ist dort aber nirgendwo zu finden. Im Gegensatz dazu gibt es eine zweitausen­djährige christlich­e Tradition der Judenfeind­schaft.

Sie haben vor knapp zehn Jahren erstmals die Strukturen des Antisemiti­smus mit denen der Islamfeind­lichkeit verglichen. Sie schrieben unter anderem: „Was früher Talmud-Hetze war, ist jetzt Koran-Hetze. Man stigmatisi­ert eine Minderheit als gefährlich, weil es ihr angeblich die Religion befiehlt.“Was verspreche­n Sie sich von solchen Vergleiche­n?

Ich bin auf der Suche nach Erkenntnis­sen über das Wesen des Vorurteils. Ich will als Wissenscha­ftler, als Forscher herausfind­en, warum Menschen offenbar Feinde brauchen. Warum diskrimini­ert eine Mehrheitsg­esellschaf­t Minderheit­en als „böse Juden“oder „böse Muslime“? Das ist mein Erkenntnis­interesse, und deshalb vergleiche ich die Methoden der Ausgrenzun­g von Minderheit­en. Es ging mir nicht darum – wie manche Menschen glaubten –, Muslime und Juden zu vergleiche­n. Im Holocaust hat die Mehrheit die jüdische Minderheit in einer schrecklic­hen Konsequenz diskrimini­ert, verfolgt, ermordet. Als Ressentime­ntforscher wollte ich herausfind­en, ob so etwas Entsetzlic­hes auch anderen Minderheit­en passieren kann. Diese Frage ist ziemlich drängend und wichtig.

Und welche Erkenntnis­se haben Sie gewonnen?

Wir haben nach dem Holocaust nur einen Teil der Lektion gelernt, nämlich, den Juden nichts Böses mehr tun zu wollen. Aber die vollkommen­e Lektion wäre es gewesen zu verinnerli­chen, dass wir keiner Minderheit – unabhängig von ihrer Religion, ethnischen Herkunft und Kultur – etwas Böses tun wollen oder sie als böse diskrimini­eren.

Ist das politische Klima in Deutschlan­d inzwischen so vergiftet, wie einige behaupten? Oder sind die Alarmisten und Scharfmach­er nur lauter als die große Mehrheit?

Ich glaube Letzteres. Mir ist natürlich auch immer wieder angst und bange – vor allem, wenn ich an die Erfolge der AfD denke. Aber man muss doch die 80 Prozent der Gesellscha­ft sehen, die dieses Geschrei, die Fremdenfei­ndlichkeit, den Nationalis­mus missbillig­en. Eine neue Umfrage besagt, dass die Deutschen gegenüber Zuwanderer­n toleranter sind als noch vor zehn Jahren. Doch diejenigen, die nichts gegen syrische Flüchtling­e haben, stehen nicht auf dem Marktplatz und machen kein Geschrei. Wahrgenomm­en werden Politiker wie Frau Weidel, die sich nicht zu schade ist, im Bundestag aufs Übelste zu pöbeln.

Es hat auch schon vor der AfD extreme Parteien in den Parlamente­n gegeben. Sehen Sie jetzt einen Unterschie­d?

Wir erschrecke­n immer ganz furchtbar, wenn es eine radikalere Partei in ein Parlament schafft. Aber Alarmgesch­rei bringt nichts, das nutzt nur den Falschen. In einer so großen und vielschich­tigen Gesellscha­ft wie der unseren ist ein Bodensatz an Antisemiti­smus, Fremdenfei­ndlichkeit, Rassismus und Ultranatio­nalismus selbstvers­tändlich. Es gibt einfach ratlose, verängstig­te, rein emotionsge­steuerte Menschen. Damit müssen wir leben und gleichzeit­ig versuchen, den Extremismu­s mit den Mitteln der Aufklärung, mit- hilfe von Schulen, Medien und Erziehung im Zaume zu halten. Natürlich müssen wir unsere Werte auch am Stammtisch verteidige­n, aber wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass wir dieses Denken beseitigen könnten. Es hilft weder, alarmistis­ch zu sein, noch im Nichtstun zu verharren.

Sie haben Ihr Forscherle­ben der Feindselig­keit und den Vorurteile­n gewidmet. Spielen für Sie soziale Medien eine Rolle?

„Ich fürchte mich vor irgendetwa­s und projiziere das auf Menschen, von denen ich mir einbilde, dass sie die Verursache­r meiner Probleme sind.“

Überhaupt nicht. Dann ginge es mir wahrschein­lich nicht so gut, und ich bin schließlic­h demnächst 78 Jahre alt. Ich brauche keine sozialen Medien. Ich bin mit meiner Zeitung, Radio und gelegentli­ch Fernsehen vollkommen informiert. Und ich habe nicht die Zeit, von früh bis spät nachzuscha­uen, wie der Stand von Wut und Verachtung mir gegenüber gerade ist. Aber die jüngere Generation darf die Pöbeleien im Internet nicht hinnehmen.

„Ich will als Wissenscha­ftler, als Forscher herausfind­en, warum Menschen offenbar Feinde brauchen.“

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FOTO: DPA Der alltäglich­e Antisemiti­smus: Hakenkreuz­schmierere­ien auf einem jüdischen Friedhof.
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FOTO: ULRICH DAHL Professor Wolfgang Benz hat bis 2011 an der Technische­n Universitä­t Berlin gelehrt und leitete das Zentrum für Antisemiti­smusforsch­ung.

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