Schwäbische Zeitung (Biberach)
Die Alten und die Kultur des Aussitzens
Alvis Hermanis inszeniert Tschechows „Die Möwe“im Münchner Cuvilliés Theater als Generationenkonflikt
MÜNCHEN - Alvis Hermanis war einst ein gern gesehener Gast an hiesigen Regiepulten. Bis er nach seiner harschen Kritik an der deutschen Flüchtlingspolitik in Theaterkreisen zur Persona non grata geworden ist. Nun hat Intendant Martin Kusej den lettischen Regisseur ans Bayerische Staatsschauspiel geholt. Er inszeniert am Cuvilliés Theater Tschechows Komödie „Die Möwe“: realistisch in Bühnenbild und Kostümen und dabei ganz auf Sprache setzend. Aber genau das war das Problem. Es wurde zu leise gesprochen. Und von manchen Plätzen aus sah man noch nicht einmal, was auf der Bühne geschah. Solche handwerklichen Mängel überraschen bei einem Theaterprofi.
Zu Beginn hantiert ein Mann mit einer Pistole, am Ende sind zwei Leute tot. Kann das eine Komödie sein? Bei Anton Tschechow schon. Trotzig gab er seinem 1895/96 entstandenen Stück „Die Möwe“diese Gattungsbezeichnung. Eine Provokation. Denn auch in diesem Tschechow-Text geht es darum, wie unglücklich alle sind, wie langweilig ihre Leben.
Konflikt der Generationen
Das Setting ist typisch für russische Dramatiker des späten 19. Jahrhunderts: Eine Gruppe von Menschen trifft sich auf einem Landgut in der Provinz. Eigentlich will keiner dort sein. Die Alten beklagen das versäumte Leben, die Jungen träumen von einer anderen Welt. Alle scheitern an den Beharrungskräften. Und lieben die Falschen: Der Lehrer Medwedenko (Tim Werths) verehrt Mascha (Anna Graenzer), die sich nach Konstantin (Marcel Heuperman) verzehrt, der aber in Nina (Mathilde Bundschuh) verliebt ist, die in dem Bestsellerautor Trigorin (Michele Cuciuffo), dem Lebensgefährten der Gastgeberin Arkadina (Sophie von Kessel), die Liebe ihres Lebens zu entdecken glaubt.
Das Unglück der Liebenden ist eine Sache. Doch Tschechow geht es um mehr, um die Suche nach dem richtigen Leben, nach dem Sinn, nach der Aufgabe. Neues schaffen? Ja, aber wie? „Die Möwe“ist Künstlerdrama und Gesellschaftsporträt. Hermanis interessiert an diesem Sittenbild der bürgerlichen Gesellschaft der Zarenzeit aber noch etwas anderes: der Generationenkonflikt, bei dem die Alten ein Monopol über das richtige Leben verwalten und den Jungen keinen Raum geben.
Alvis Hermanis hat für die Bühne im Cuvilliés Theater zusammen mit Thilo Ullrich einen Salon entworfen mit Diwan und Vitrinen, Klavier und Sekretär. Die Kostüme von Kristine Jurjane sind bis auf die Unterhosen historisch korrekt und exquisit geschneidert. Alles wunderbar stimmig. Und verblüffend, wie der Text in dieser historischen Atmosphäre geradezu heutig aufscheint.
Überzeichnete Charaktere
Von daher wäre es gar nicht nötig, manche Charaktere dermaßen zu überzeichnen. Tim Werths ist als Medwedenko ein Lehrer-LämpelVerschnitt mit zu kurzen Ärmeln und Mittelscheitel. Sophie von Kessel kann als Arkadina wenig mehr als eine exaltierte Salonschlange zeigen. René Dumont zittert ihren Bruder als Tattergreis auf die Bretter. Marcel Heuperman als Arkadinas Sohn Konstantin ist auf den ersten Blick eine überraschende, aber doch überzeugende Besetzung. Er wirkt wie ein großes, gutmütiges, trauriges Kind, unverstanden von der Welt und von seiner Mutter. Einer der verletzt werden wird. Man ahnt es, wenn er auf die Bühne kommt. Mathilde Bundschuh spielt die zarte, schöne Nina im blütenweißen Spitzenkleid. Sie ist eigentlich die einzige Figur, die vom Autor nicht parodiert und vom Regisseur nicht denunziert wird.
Das Problem des Abends liegt nicht in der Interpretation, sondern im Handwerklichen. Das Cuvilliés Theater ist mit der hufeisenförmigen Anordnung ein schwieriger Spielort. Die gesamte Bühne ist nur vom Parkett aus gut einzusehen. Das Publikum an den Seiten hat eine Chance, solange in der Mitte gespielt wird. Alles, was in der rechten oder linken Ecke geschieht, bekommt jeweils die Hälfte der Zuschauer nicht mit. Dass aber auch der Text über sehr weite Strecken selbst in den vorderen Reihen nicht zu verstehen war, führte bei der Premiere zu einer eigenartigen Situation. Das Publikum war mäuschenstill, um mitzubekommen, was auf der Bühne gesprochen wird. Die Darsteller schienen verunsichert, weil sie keine Reaktionen aus dem Publikum spürten. Erst beim Schlussapplaus lösten sich ihre angespannten Mienen.
Weitere Aufführungen: 30. Januar, 5., 7. und 13. Februar. Karten unter: www.residenztheater.de oder unter Tel. 089/2185 1940.