Schwäbische Zeitung (Biberach)
Verstörende Schönheit
Sharon van Etten tauscht die Gitarre gegen Tasteninstrumente
BERLIN - Zwei Instrumente und ein Bauchgefühl sind die Hauptverantwortlichen dafür, dass Sharon van Ettens fünftes Album „Remind Me Tomorrow“sich so ganz anders anhört als die vorherigen: „Vor vier Jahren habe ich mir mein erstes eigenes Piano angeschafft“, erzählt die 37-jährige New Yorkerin, „so ein kleines Ding, das bei uns in der Küche steht und das mich so richtig in seinen Bann gezogen hat.“Und nach dem Synthesizer mit Namen „Jupiter 4“taufte Sharon dann gleich eines der neuen Lieder.
Van Etten hat sich lange einen Proberaum im verwinkelten „Saltlands“-Komplex in Brooklyn mit Schauspieler und Musiker Michael Cera geteilt. „Da unten im Keller konnte ich üben und hatte alle Freiheiten.“Sharon van Etten schrieb mehr als 40 Songs in gut zwei Jahren, „und mein Bauch befahl mir geradezu, die Gitarre zur Seite zu legen, um mich stattdessen an den Tasteninstrumenten auszutoben.“
Raum zum Experimentieren
Das Resultat ist ein Album von verstörender Schönheit. Inspiriert von Nick Cave und Portishead nahm van Etten Lieder auf, die immer noch von Melodien angetrieben werden, aber zugleich tiefer klingen, unergründlicher, melancholischer und düsterer. „Ich habe mir selbst Raum und Zeit gegeben, um zu experimentieren“, sagt Sharon, die zuvor den Soundtrack für Katherine Dieckmanns Film „Strange Weather“geschrieben hatte („Sie wünschte sich Musik im Stil von Ry Cooders ,Paris, Texas’, anschließend konnte ich die Gitarre absolut nicht mehr sehen“).
Ohnehin hat sich Sharon van Etten seit ihrem 2014er-Album „Are
We There“diversen Aktivitäten außerhalb ihres Indie-RockerinnenLehrplans gewidmet. Van Etten, spielte eine größere Rolle in der SciFi-Serie „Tha OA“, auch in „Twin Peaks“war sie dabei, ferner begann sie ein Psychologiestudium, das sie, „ich bin realistisch genug“, mit 50 abschließen möchte, um danach als Therapeutin zu arbeiten. Privat kam sie mit ihrem Schlagzeuger Zeke Hutchins zusammen und brachte 2017 einen Sohn zur Welt.
Nicht verwunderlich, dass die neuen Songs höchstpersönlich sind. Das dunkel pochende „Comeback Kid“wirft ein wenig Licht auf „Traumata in der Vergangenheit“, das Bruce-Springsteen-inspirierte „Seventeen“verknüpft die ständige Veränderung in ihrem geliebten Brooklyn, wo sie seit 15 Jahren lebt, mit der Entwicklung
ihres eigenen TeenagerIchs. Und in „No One’s Easy to Love“gestattet sie sich Zuversicht. „Bei allem Scheiß, der in der Welt passiert, wollte ich mich nicht vor der Aussage drücken, dass ich glücklich bin. Aber klar ist auch: Eine Mutter zu sein, einen Partner zu lieben, das ist immer auch krass kompliziert.“
Das Kinderzimmerchaos auf dem Albumcover ist jedoch kein Foto aus Sharons Wohnung, sondern aus der von Regisseurin Dieckmann. „Ich hatte ihr erzählt, wie viel Angst ich vor allem hatte, als ich schwanger war. Katherine zeigte mir dieses Bild, lachte und meinte ‚Du wirst es schon schaffen‘. Bis jetzt hat sie recht behalten.“
Live: 3.4. München, Strom.