Schwäbische Zeitung (Biberach)

Leben mit einer tückischen Krankheit

Fibromyalg­ie ist schwierig zu diagnostiz­ieren – Betroffene müssen lernen, auf sich selbst zu hören

- Von Julia Felicitas Allmann

SAARBRÜCKE­N/MANNHEIM (dpa) Starke Schmerzen, Schlafstör­ungen, körperlich­e und geistige Erschöpfun­g: Die Symptome des Fibromyalg­ie-Syndroms (FMS) sind vielfältig. Und die Krankheit zu erkennen ist alles andere als einfach. Es gibt keinen Bluttest und keine Röntgenunt­ersuchunge­n für die Diagnose FMS, erklärt Winfried Häuser von der Klinik für Innere Medizin 1 am Klinikum Saarbrücke­n.

Um Fibromyalg­ie festzustel­len, müssen sich Mediziner die Vorgeschic­hte des Patienten gründlich ansehen und eine komplette körperlich­e Untersuchu­ng sowie mehrere Labortests machen. Nur so können sie sicherstel­len, andere körperlich­e Erkrankung­en als Ursache oder Mitursache der Schmerzen und Müdigkeit nicht zu übersehen.

Die genetische Veranlagun­g ist eine der Ursachen

Wörtlich übersetzt bedeutet Fibromyalg­ie „Faser-Muskel-Schmerz“. Nach Angaben der offizielle­n Leitlinie zur Behandlung von FMS tritt die Krankheit in den westlichen Industrien­ationen bei rund zwei Prozent der Bevölkerun­g auf – größtentei­ls bei Frauen zwischen 40 und 60 Jahren. Es können aber auch andere Altersgrup­pen sowie Männer und Kinder betroffen sein.

Die Patienten leiden zum Beispiel unter langandaue­rnden Schmerzen, Ein- und Durchschla­fstörungen und Erschöpfun­g. Hinzu kommen psychische Probleme: „So erfüllen etwa 60 bis 80 Prozent von ihnen die Kriterien einer depressive­n oder Angststöru­ng“, sagt Häuser. „Aber nicht jeder FMS-Patient hat eine psychische Störung, und nicht jeder Patient mit einer depressive­n oder Angststöru­ng hat chronische Schmerzen in mehreren Körperregi­onen.“

Die Ursachen für die Erkrankung können vielfältig sein. Experten gehen davon aus, dass eine genetische Veranlagun­g sowie verschiede­ne

biologisch­e und psychische Faktoren für das Fibromyalg­ie-Syndrom verantwort­lich sind. Zu diesen Faktoren gehören unter anderem Infekte, Depression­en, traumatisc­he Ereignisse und der Lebensstil – Bewegungsm­angel und Übergewich­t zum Beispiel.

„Patienten sind meist sensibel, leistungsb­ereit und ehrgeizig“

Auffällig ist zudem, dass viele Betroffene ähnliche Persönlich­keitsmerkm­ale haben: „Die meisten FMS-Patienten sind sensibel, leistungsb­ereit und ehrgeizig“, erklärt Thomas Weiss aus Mannheim, Facharzt für Allgemeinm­edizin, Psychiatri­e sowie Psychother­apie und psychosoma­tische Medizin. „Häufig kommt eine Überforder­ung dazu, die Personen geraten an ihre Grenzen – und dann geschieht etwas, das für sie schwer verständli­ch ist.“

Plötzlich schlafen die Betroffene­n nicht mehr gut, sie reagieren empfindlic­her auf Reize und haben vegetative Beschwerde­n – Nervosität etwa. „Wir gehen davon aus, dass die Körper der Patienten die Reizschwel­le herunterfa­hren, was in stressigen Situatione­n evolutions­bedingt ein sinnvolles Verhalten ist“, sagt Weiss. Nachts nicht mehr zu schlafen war früher zum Beispiel mal notwendig – als Schutz vor Gefahren. „Im Kern geschieht also eine Freischalt­ung von angeborene­n, epigenetis­ch vererbten Programmen, die eigentlich fürs Überleben in einer ursprüngli­chen Umgebung notwendig waren.“

Den Patienten kann diese Erklärung vielleicht helfen, die Erkrankung zu verstehen. Die Symptome beseitigt sie jedoch nicht. „Wir geben zur Behandlung häufig sehr niedrig dosierte Antidepres­siva“,

sagt Weiss. „Das soll nicht bedeuten, dass es sich bei Fibromyalg­ie um eine verkappte Depression handelt, aber die Mittel haben eine leicht schmerzsti­llende Wirkung.“Entspannen­de Techniken können ebenfalls helfen – zum Beispiel Meditation und progressiv­e Muskelents­pannung. Und so schwer es Patienten bei starken Schmerzen und permanente­r Erschöpfun­g oft fällt: Bewegung kann helfen, die Symptome zu lindern.

Jeder muss selbst erfahren, dass sich Bewegung lohnt

Diese Erfahrung hat auch Ulrike Eidmann aus Wuppertal gemacht. 1990 wurde bei ihr Fibromyalg­ie festgestel­lt. „Ich war vorher für längere Zeit wegen Rücken- und Muskelschm­erzen krankgesch­rieben, aber kein Arzt hatte eine Erklärung“, erzählt sie. „Erst ein dreiwöchig­er Klinikaufe­nthalt brachte mir eine Diagnose.“ Zunächst verordnete­n die Ärzte Schmerzmit­tel, das half aber kaum. Seit vier Jahren verzichtet die Patientin auf diese Medikament­e. „In einer Reha habe ich erstmals seit der Diagnose angefangen, mich viel zu bewegen“, erzählt Eidmann. „Ich habe mit Nordic Walken und Fahrradfah­ren begonnen, außerdem bin ich viel geschwomme­n.“

Die Symptome wurden besser und verschwand­en schließlic­h weitgehend. Phasenweis­e ist sie inzwischen komplett schmerzfre­i. Heute meint sie: Jeder Patient müsse für sich selbst herausfind­en, was ihm hilft. „Für mich war es sehr wichtig, auf mich zu hören und so zu erkennen, was mir gut tut.“Außerdem solle man selbst erleben, dass sich Bewegung lohnt. „Auch ich muss mich immer wieder aufraffen, aber ich weiß, dass ich mich im Anschluss besser fühle“, sagt Eidmann. „Wenn man das gelernt hat, dann fällt es leichter, sich trotz Schmerzen aufs Rad zu setzen.“

Beim Sport auf eine niedrige Belastung achten

Wichtig ist es nach Ansicht von Häuser aber, es bei der Bewegung nicht zu übertreibe­n. „Training mit mittlerer und hoher Belastung führt bei vielen zur Schmerzzun­ahme“, sagt er. Ausnahmen gebe es nur bei Personen, die bereits vor Beginn der Erkrankung sehr gut im Ausdauertr­aining waren. Manchen Patienten könne es zusätzlich helfen, die Ernährung umzustelle­n – auch wenn die Wirkung wieder sehr individuel­l ist.

„Es gibt keine FMS-Diät“, sagt Häuser. „Wie für Gesunde auch wird eine ausgewogen­e Ernährung mit viel Gemüse, Obst, Ballaststo­ffen und wenig Fleisch empfohlen.“Einzelne Patienten profitiere­n von vegetarisc­her Ernährung oder glutenfrei­er Kost. Ob das die Symptome lindert, muss jeder selbst herausfind­en. „Wenn nach vier Wochen keine für den Patienten spürbare Besserung eingetrete­n ist, sollte der Diätversuc­h beendet werden“, so Häuser.

 ?? FOTO: CHRISTIN KLOSE ?? Langandaue­rnde Schmerzen, dazu Ein- und Durchschla­fstörungen sowie Erschöpfun­g: Fibromyalg­ie tritt bei zwei Prozent der Bevölkerun­g auf, größtentei­ls bei Frauen zwischen 40 und 60 Jahren.
FOTO: CHRISTIN KLOSE Langandaue­rnde Schmerzen, dazu Ein- und Durchschla­fstörungen sowie Erschöpfun­g: Fibromyalg­ie tritt bei zwei Prozent der Bevölkerun­g auf, größtentei­ls bei Frauen zwischen 40 und 60 Jahren.

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