Schwäbische Zeitung (Biberach)

Punkstar Peaches

Spielt in Produktion am Staatsthea­ter Stuttgart mit

- Von Barbara Miller www.schauspiel-stuttgart.de

STUTTGART – Den weißen, alten, heterosexu­ellen Männern geht es an den Kragen. Auch in der Kunst. Wenn schon unbedingt was von ihnen aufgeführt werden muss, dann aber bitte mit gendergere­chter Einordnung! So geschehen am Staatsthea­ter Stuttgart, bei dem am Samstag Brecht/Weills Ballett „Die sieben Todsünden“mit einer Show von Peaches kombiniert wurde. Die kanadische Sängerin macht feministis­chen Punk und ist ein Star der queeren Szene. Und so ist auf der Bühne des Schauspiel­hauses nicht nur ein Ensemble des Staatsorch­esters in Frack und Fliege zu sehen, sondern auch eine Sängerin zu erleben, die – vielbusig wie die Artemis von Ephesos – von einer Frau und einem Mann mit Vulvaköpfe­n umtanzt wird. Das Premierenp­ublikum spendete großen Applaus.

„Die sieben Todsünden der Kleinbürge­r“lautet der Titel in der Gesamtausg­abe Brechts. Zwölf Seiten, zwei Hauptfigur­en, oder besser eine Hauptfigur, die aber aufgespalt­en wird. Anna (I) vermarktet Anna (II). Die beiden Annas sollen Geld verdienen, damit sich die Familie ein Haus am Mississipp­i bauen kann. In der üblichen Brecht-Manier werden die religiösen Normen konterkari­ert: die „Todsünde“der Faulheit, besteht in der Faulheit im Begehen eines Unrechts oder die Sünde der „Völlerei“in der Sättigung. Und Kurt Weill liefert – ebenfalls in der bewährten Manier – dazu die passenden musikalisc­hen Parodien. „Der Herr erleuchte unsre Kinder/Daß sie den Weg erkennen, der zum Wohlstand führt“ist ein Choral, den vier Opernsänge­r intonieren. Das Lied der Schwester imitiert den Sound von HollywoodM­usicals.

Auf Distanz gehen

Und weil das Stück von allem etwas hat, arbeiteten Oper, Ballett und Schauspiel zusammen. 1996 hat es eine solche Zusammenar­beit zum letzten Mal gegeben. Martin Kušej inszeniert­e damals „King Arthur“von Henry Purcell. Gedanken daran sollte man tunlichst vermeiden. Denn die aktuelle Koprodukti­on in der Regie von Anna-Sophie Mahler bleibt doch weit hinter dem damaligen Geniestrei­ch zurück, der bis heute als gelungene Symbiose der drei Sparten gelten kann.

Die neue Produktion zerfällt in mehrere Teile: das Ballett von Brecht/Weill, ein Monolog aus „King Kong Theorie“, die Show von Peaches, und als Epilog das Lied „The Unanswered Question“von Charles Ives. Dass diese Teile irgendetwa­s miteinande­r zu tun hätten, wird lediglich behauptet.

Für das Brecht-Weill-Ballett hat Katrin Connan einen Boxring auf die Bühne gestellt. Dort sitzt auch das Orchester unter Leitung von Stefan Schreiber. Der Tänzer Louis Stiens hat für sich und die Schauspiel­erin Josephine Köhler zu den sieben Episoden Boxkämpfe choreograf­iert. Das ist auch lichttechn­isch schön inszeniert. Als Erzählerin steht die Sängerin Peaches am Rand, haut gelegentli­ch auch mal auf einen Boxsack, interpreti­ert ansonsten mit dem typischen Diseusen-Furor die Brecht-Lieder vom Aufbruch in die großen Städte, vom Herz und vom Sparbuch. Nach 35 Minuten sind „Die sieben Todsünden“zu Ende.

Dann darf die Schauspiel­erin Josephine Köhler einen Text aus „King Kong Theorie“von Virginie Despentes sprechen. Auch sie ist ein Star – eine feministis­che Bestseller­autorin aus Frankreich. Was die junge Schauspiel­erin freilich vorträgt, erinnert eher an die Zoten aus der Kabarettse­ndung „Ladies Night“. Lustig, aber eher unterkompl­ex.

Wenn Provokatio­n zum Kult wird

Es ist schon ungewöhnli­ch, wenn die Dramaturgi­n Katinka Deecke im Programmhe­ft eine ganze Seite darüber schreibt, dass das Stück, das gezeigt werden soll, eigentlich eine alte Kamelle ist, die keinen mehr interessie­rt. Wenn man es nun doch inszeniere, dann nur, um sogleich auch die nötige Distanzier­ung von Text und Autor mitzuliefe­rn. Wichtig seien zwar die Kapitalism­us- und Systemkrit­ik in „Die sieben Todsünden“, schlimm aber die Herren Weill und Brecht. „Heute, im Jahr 2019 hingegen, kann man nicht umhin, sogleich zu bemerken, missmutig womöglich, dass sie sich trotz Exil und politische­r Verfolgung in durchaus privilegie­rten Situatione­n befanden. Um so mehr als dass vor allem Brecht ja durchaus fürstlich von den Begabungen der ihn umgebenden Frauen profitiert­e.“

Hier kommt nun Peaches ins Spiel. Auch die Welt des Punk ist eine Männerwelt. Aber Merill Beth Nisker aus Toronto, die sich seit dem Jahr 2000 Peaches nennt, schreit seit Jahrzehnte­n an gegen Männer, die Frauen unterdrück­en. Und überhaupt gegen eine Gesellscha­ft, die Geschlecht­ern Rollen zuweist und vorschreib­t, wie Sexualität zu leben ist. Was „queer“für sie bedeutet, wie sie sich Sex ohne Tabus vorstellt, besingt die 52-Jährige explizit in ihren Songs. Einige davon wie „Dick in The Air“gab sie in Stuttgart zum Besten. Und bei „Fuck The Pain Away“hielt es manche kaum mehr auf den Sitzen. Der Song, unter anderem der Soundtrack zum Film „Lost in Translatio­n“, ist das Humba Humba Tätärä der queeren Szene.

Und spätestens an der Stelle wird klar: Das vermeintli­ch Subversive ist nicht mehr subversiv, wenn es Bestandtei­l einer auf sich selbst bezogenen Bestätigun­gskultur geworden ist. Darin unterschei­det sich der Punk nicht von der ach so gern diffamiert­en Hochkultur. Die Provokatio­n wird Kult – und hat sich erledigt.

So lassen sich die anderthalb Stunden im Staatsscha­uspiel durchaus kommod verbringen. Jeder hatte was: Das traditione­lle Opern/Schauspiel­publikum konnte sich an Brecht/Weill delektiere­n und durfte – oh wie verrucht! – auch mal einen Blick in die wild-obszöne Welt des Punk-Feminismus werfen. Und die Peaches-Fans kamen kostengüns­tig zu einer Show ihres Stars. Der Theaterabe­nd stellte keine allzu großen intellektu­ellen Anforderun­gen an Besuchende mancherlei Geschlecht­s.

Weitere Aufführung­en am 7., 12., 17., 25. Februar sowie am 2., 10., 23. und 30. März. Kartentele­fon (0711) 202090

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FOTO: DPA
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FOTO: BERNHARD WEIS Frauen lassen sich nichts mehr verbieten. Sie haben ein Recht auf alles, auch die Völlerei. Peaches (rechts), vielbusig wie die Artemis von Ephesos, und die Schauspiel­erin Josephine Köhler im Showteil von „Die sieben Todsünden“.

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