Schwäbische Zeitung (Biberach)
Punkstar Peaches
Spielt in Produktion am Staatstheater Stuttgart mit
STUTTGART – Den weißen, alten, heterosexuellen Männern geht es an den Kragen. Auch in der Kunst. Wenn schon unbedingt was von ihnen aufgeführt werden muss, dann aber bitte mit gendergerechter Einordnung! So geschehen am Staatstheater Stuttgart, bei dem am Samstag Brecht/Weills Ballett „Die sieben Todsünden“mit einer Show von Peaches kombiniert wurde. Die kanadische Sängerin macht feministischen Punk und ist ein Star der queeren Szene. Und so ist auf der Bühne des Schauspielhauses nicht nur ein Ensemble des Staatsorchesters in Frack und Fliege zu sehen, sondern auch eine Sängerin zu erleben, die – vielbusig wie die Artemis von Ephesos – von einer Frau und einem Mann mit Vulvaköpfen umtanzt wird. Das Premierenpublikum spendete großen Applaus.
„Die sieben Todsünden der Kleinbürger“lautet der Titel in der Gesamtausgabe Brechts. Zwölf Seiten, zwei Hauptfiguren, oder besser eine Hauptfigur, die aber aufgespalten wird. Anna (I) vermarktet Anna (II). Die beiden Annas sollen Geld verdienen, damit sich die Familie ein Haus am Mississippi bauen kann. In der üblichen Brecht-Manier werden die religiösen Normen konterkariert: die „Todsünde“der Faulheit, besteht in der Faulheit im Begehen eines Unrechts oder die Sünde der „Völlerei“in der Sättigung. Und Kurt Weill liefert – ebenfalls in der bewährten Manier – dazu die passenden musikalischen Parodien. „Der Herr erleuchte unsre Kinder/Daß sie den Weg erkennen, der zum Wohlstand führt“ist ein Choral, den vier Opernsänger intonieren. Das Lied der Schwester imitiert den Sound von HollywoodMusicals.
Auf Distanz gehen
Und weil das Stück von allem etwas hat, arbeiteten Oper, Ballett und Schauspiel zusammen. 1996 hat es eine solche Zusammenarbeit zum letzten Mal gegeben. Martin Kušej inszenierte damals „King Arthur“von Henry Purcell. Gedanken daran sollte man tunlichst vermeiden. Denn die aktuelle Koproduktion in der Regie von Anna-Sophie Mahler bleibt doch weit hinter dem damaligen Geniestreich zurück, der bis heute als gelungene Symbiose der drei Sparten gelten kann.
Die neue Produktion zerfällt in mehrere Teile: das Ballett von Brecht/Weill, ein Monolog aus „King Kong Theorie“, die Show von Peaches, und als Epilog das Lied „The Unanswered Question“von Charles Ives. Dass diese Teile irgendetwas miteinander zu tun hätten, wird lediglich behauptet.
Für das Brecht-Weill-Ballett hat Katrin Connan einen Boxring auf die Bühne gestellt. Dort sitzt auch das Orchester unter Leitung von Stefan Schreiber. Der Tänzer Louis Stiens hat für sich und die Schauspielerin Josephine Köhler zu den sieben Episoden Boxkämpfe choreografiert. Das ist auch lichttechnisch schön inszeniert. Als Erzählerin steht die Sängerin Peaches am Rand, haut gelegentlich auch mal auf einen Boxsack, interpretiert ansonsten mit dem typischen Diseusen-Furor die Brecht-Lieder vom Aufbruch in die großen Städte, vom Herz und vom Sparbuch. Nach 35 Minuten sind „Die sieben Todsünden“zu Ende.
Dann darf die Schauspielerin Josephine Köhler einen Text aus „King Kong Theorie“von Virginie Despentes sprechen. Auch sie ist ein Star – eine feministische Bestsellerautorin aus Frankreich. Was die junge Schauspielerin freilich vorträgt, erinnert eher an die Zoten aus der Kabarettsendung „Ladies Night“. Lustig, aber eher unterkomplex.
Wenn Provokation zum Kult wird
Es ist schon ungewöhnlich, wenn die Dramaturgin Katinka Deecke im Programmheft eine ganze Seite darüber schreibt, dass das Stück, das gezeigt werden soll, eigentlich eine alte Kamelle ist, die keinen mehr interessiert. Wenn man es nun doch inszeniere, dann nur, um sogleich auch die nötige Distanzierung von Text und Autor mitzuliefern. Wichtig seien zwar die Kapitalismus- und Systemkritik in „Die sieben Todsünden“, schlimm aber die Herren Weill und Brecht. „Heute, im Jahr 2019 hingegen, kann man nicht umhin, sogleich zu bemerken, missmutig womöglich, dass sie sich trotz Exil und politischer Verfolgung in durchaus privilegierten Situationen befanden. Um so mehr als dass vor allem Brecht ja durchaus fürstlich von den Begabungen der ihn umgebenden Frauen profitierte.“
Hier kommt nun Peaches ins Spiel. Auch die Welt des Punk ist eine Männerwelt. Aber Merill Beth Nisker aus Toronto, die sich seit dem Jahr 2000 Peaches nennt, schreit seit Jahrzehnten an gegen Männer, die Frauen unterdrücken. Und überhaupt gegen eine Gesellschaft, die Geschlechtern Rollen zuweist und vorschreibt, wie Sexualität zu leben ist. Was „queer“für sie bedeutet, wie sie sich Sex ohne Tabus vorstellt, besingt die 52-Jährige explizit in ihren Songs. Einige davon wie „Dick in The Air“gab sie in Stuttgart zum Besten. Und bei „Fuck The Pain Away“hielt es manche kaum mehr auf den Sitzen. Der Song, unter anderem der Soundtrack zum Film „Lost in Translation“, ist das Humba Humba Tätärä der queeren Szene.
Und spätestens an der Stelle wird klar: Das vermeintlich Subversive ist nicht mehr subversiv, wenn es Bestandteil einer auf sich selbst bezogenen Bestätigungskultur geworden ist. Darin unterscheidet sich der Punk nicht von der ach so gern diffamierten Hochkultur. Die Provokation wird Kult – und hat sich erledigt.
So lassen sich die anderthalb Stunden im Staatsschauspiel durchaus kommod verbringen. Jeder hatte was: Das traditionelle Opern/Schauspielpublikum konnte sich an Brecht/Weill delektieren und durfte – oh wie verrucht! – auch mal einen Blick in die wild-obszöne Welt des Punk-Feminismus werfen. Und die Peaches-Fans kamen kostengünstig zu einer Show ihres Stars. Der Theaterabend stellte keine allzu großen intellektuellen Anforderungen an Besuchende mancherlei Geschlechts.
Weitere Aufführungen am 7., 12., 17., 25. Februar sowie am 2., 10., 23. und 30. März. Kartentelefon (0711) 202090