Schwäbische Zeitung (Biberach)
Ein Komödiant, kein Mann fürs Seriöse
Der britische Premierminister Boris Johnson wirkt in der Corona-Krise überfordert
LONDON - Tiefe Ringe haben sich unter die müden Augen gegraben. Wo ist der strahlende Wahlsieger vom Dezember geblieben, der demnächst auch noch in der Downing Street Hochzeit feiern will und die Ankunft seines mindestens sechsten Kindes erwartet? Premierminister Boris Johnson wirkt dieser Tage, als erdrücke ihn die Last des Amtes, auf das er jahrzehntelang zäh hingearbeitet hat.
Wie sehr die Verantwortung auf dem jeweiligen Bewohner der Downing Street lasten kann, ließ sich auch schon früher beobachten. Labour-Premier Tony Blair schien während der Irak-Krise 2003 täglich zu altern. Seinem Nachfolger Gordon Brown stand 2008 die globale Finanzkrise ins Gesicht geschrieben. Beide Männer aber strahlten Kompetenz und Führungskraft aus, gingen mit Überzeugung ihren Weg – wenn auch in Blairs Fall mit verheerenden Folgen.
Johnson vermittelt weder Führungsstärke noch Gewissheit, von Sachkenntnis ganz zu schweigen. Die Briten haben ihn für seinen Optimismus und seine Art gewählt, die Dinge auf die leichte Schulter zu nehmen.
In der Corona-Krise sind plötzlich seriöse Politiker gefragt. Johnson reagierte darauf, indem er sich demonstrativ mit Wissenschaftlern und Ärzten umgab. Entscheidungen aber trifft die Regierung, und eine nach der anderen stellt sich als falsch heraus. Lang propagierte Johnson lediglich eifriges Händewaschen; Menschen mit Symptomen wie Fieber und trockenem Husten wurden zur Selbstisolierung aufgefordert, aber nicht getestet, wie es die Weltgesundheitsorganisation WHO fordert. Statt harte Maßnahmen gegen das Virus durchzusetzen, sprachen Johnsons Berater emotionslos über hohe Ansteckungsraten, die hoffentlich die sogenannte Herdenimmunität zur Folge haben würden: Dabei infizieren sich größere Teile der Bevölkerung mit dem Coronavirus, erkranken jedoch nicht an der Lungenkrankheit Covid-19, was die Verbreitung des Virus verlangsamt.
Nach empörten Protesten von Wissenschaftlern und Öffentlichkeit – eine Studie sagte eine Viertelmillion Tote voraus – hat Johnson das Ruder herumgeworfen. Wie anderswo sollen die Briten soziale Kontakte einschränken, wenig reisen, auf Pubund Theaterbesuche verzichten. Täglich werden nun 4000 Menschen getestet, demnächst sollen es 25 000 sein. Vom Wochenende an gelten in London schärfere Einschränkungen.
Auf seinen häufiger gewordenen Pressekonferenzen ringt der eigentlich mit Sprachgewalt und Mutterwitz gesegnete Johnson plötzlich mit Worten. Billige Pointen bleiben ihm im Hals stecken, fürs ernste Fach hat er kein Skript. Zweimal nacheinander musste er sich in der allwöchentlichen Fragestunde des Premierministers dem keineswegs brillanten Oppositionsführer Jeremy Corbyn geschlagen geben.
Aus der Regierung kommt keine Hilfe. In der Krise rächt sich Johnsons Beharren auf absoluter Gefolgschaft in der Brexit-Frage. Erfahrene Männer und Frauen aus Theresa Mays Regierung traten nicht mehr zur jüngsten Wahl an, bei der Kabinettsumbildung im Februar feuerte der Premierminister noch die übriggebliebenen Routiniers.
Dem Unterhaus präsentiert sich ein überforderter oder inkompetenter Regierungsvertreter nach dem anderen. Der Haushalt des Finanzministers Rishi Sunak war nach zwei Tagen bereits obsolet; ein neues Hilfspaket für die abstürzende Wirtschaft enthielt diese Woche manch Versprechen an Firmen, aber keine klare Hilfe für Mieter und Niedrigverdiener,
also ausgerechnet für jene Menschen, denen die Krise als erstes die Existenz raubt.
Landwirtschaftsminister George Eustice beteuert, es gebe keinerlei Versorgungsengpässe bei Lebensmitteln. Gleichzeitig flimmern Bilder von leeren Supermarkt-Regalen und immer länger werdenden Kundenschlangen über die Bildschirme.
Erst nach langem Zögern verfügte Bildungsminister Gavin Williamson die Schließung von Schulen und Universitäten, viele Bildungseinrichtungen hatten diesen Schritt längst vorweggenommen. Die überhastete Absage der Prüfungen zu GCSE und ALevel – vergleichbar der Mittleren Reife und dem Abitur – im Sommer empörte selbst die eigenen Fraktionskollegen.
Von Reiseverboten oder Ausgangssperren ist noch nicht die Rede. Einstweilen wirkt der Premierminister, als laufe er der Realität steigender Ansteckungsraten hinterher.