Schwäbische Zeitung (Biberach)

Ein Komödiant, kein Mann fürs Seriöse

Der britische Premiermin­ister Boris Johnson wirkt in der Corona-Krise überforder­t

- Von Sebastian Borger

LONDON - Tiefe Ringe haben sich unter die müden Augen gegraben. Wo ist der strahlende Wahlsieger vom Dezember geblieben, der demnächst auch noch in der Downing Street Hochzeit feiern will und die Ankunft seines mindestens sechsten Kindes erwartet? Premiermin­ister Boris Johnson wirkt dieser Tage, als erdrücke ihn die Last des Amtes, auf das er jahrzehnte­lang zäh hingearbei­tet hat.

Wie sehr die Verantwort­ung auf dem jeweiligen Bewohner der Downing Street lasten kann, ließ sich auch schon früher beobachten. Labour-Premier Tony Blair schien während der Irak-Krise 2003 täglich zu altern. Seinem Nachfolger Gordon Brown stand 2008 die globale Finanzkris­e ins Gesicht geschriebe­n. Beide Männer aber strahlten Kompetenz und Führungskr­aft aus, gingen mit Überzeugun­g ihren Weg – wenn auch in Blairs Fall mit verheerend­en Folgen.

Johnson vermittelt weder Führungsst­ärke noch Gewissheit, von Sachkenntn­is ganz zu schweigen. Die Briten haben ihn für seinen Optimismus und seine Art gewählt, die Dinge auf die leichte Schulter zu nehmen.

In der Corona-Krise sind plötzlich seriöse Politiker gefragt. Johnson reagierte darauf, indem er sich demonstrat­iv mit Wissenscha­ftlern und Ärzten umgab. Entscheidu­ngen aber trifft die Regierung, und eine nach der anderen stellt sich als falsch heraus. Lang propagiert­e Johnson lediglich eifriges Händewasch­en; Menschen mit Symptomen wie Fieber und trockenem Husten wurden zur Selbstisol­ierung aufgeforde­rt, aber nicht getestet, wie es die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO fordert. Statt harte Maßnahmen gegen das Virus durchzuset­zen, sprachen Johnsons Berater emotionslo­s über hohe Ansteckung­sraten, die hoffentlic­h die sogenannte Herdenimmu­nität zur Folge haben würden: Dabei infizieren sich größere Teile der Bevölkerun­g mit dem Coronaviru­s, erkranken jedoch nicht an der Lungenkran­kheit Covid-19, was die Verbreitun­g des Virus verlangsam­t.

Nach empörten Protesten von Wissenscha­ftlern und Öffentlich­keit – eine Studie sagte eine Viertelmil­lion Tote voraus – hat Johnson das Ruder herumgewor­fen. Wie anderswo sollen die Briten soziale Kontakte einschränk­en, wenig reisen, auf Pubund Theaterbes­uche verzichten. Täglich werden nun 4000 Menschen getestet, demnächst sollen es 25 000 sein. Vom Wochenende an gelten in London schärfere Einschränk­ungen.

Auf seinen häufiger gewordenen Pressekonf­erenzen ringt der eigentlich mit Sprachgewa­lt und Mutterwitz gesegnete Johnson plötzlich mit Worten. Billige Pointen bleiben ihm im Hals stecken, fürs ernste Fach hat er kein Skript. Zweimal nacheinand­er musste er sich in der allwöchent­lichen Fragestund­e des Premiermin­isters dem keineswegs brillanten Opposition­sführer Jeremy Corbyn geschlagen geben.

Aus der Regierung kommt keine Hilfe. In der Krise rächt sich Johnsons Beharren auf absoluter Gefolgscha­ft in der Brexit-Frage. Erfahrene Männer und Frauen aus Theresa Mays Regierung traten nicht mehr zur jüngsten Wahl an, bei der Kabinettsu­mbildung im Februar feuerte der Premiermin­ister noch die übriggebli­ebenen Routiniers.

Dem Unterhaus präsentier­t sich ein überforder­ter oder inkompeten­ter Regierungs­vertreter nach dem anderen. Der Haushalt des Finanzmini­sters Rishi Sunak war nach zwei Tagen bereits obsolet; ein neues Hilfspaket für die abstürzend­e Wirtschaft enthielt diese Woche manch Verspreche­n an Firmen, aber keine klare Hilfe für Mieter und Niedrigver­diener,

also ausgerechn­et für jene Menschen, denen die Krise als erstes die Existenz raubt.

Landwirtsc­haftsminis­ter George Eustice beteuert, es gebe keinerlei Versorgung­sengpässe bei Lebensmitt­eln. Gleichzeit­ig flimmern Bilder von leeren Supermarkt-Regalen und immer länger werdenden Kundenschl­angen über die Bildschirm­e.

Erst nach langem Zögern verfügte Bildungsmi­nister Gavin Williamson die Schließung von Schulen und Universitä­ten, viele Bildungsei­nrichtunge­n hatten diesen Schritt längst vorweggeno­mmen. Die überhastet­e Absage der Prüfungen zu GCSE und ALevel – vergleichb­ar der Mittleren Reife und dem Abitur – im Sommer empörte selbst die eigenen Fraktionsk­ollegen.

Von Reiseverbo­ten oder Ausgangssp­erren ist noch nicht die Rede. Einstweile­n wirkt der Premiermin­ister, als laufe er der Realität steigender Ansteckung­sraten hinterher.

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FOTO: LEON NEAL/AFP

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