Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Abends sind wir erledigt“
Wie Eltern von Kindern mit Schwerbehinderung die Coronazeit meistern
INGERKINGEN - Die Schulschließungen in der Coronakrise stellen Eltern von Kindern mit schwerer Behinderung vor eine riesige Herausforderung. Denn ihre Töchter und Söhne brauchen teilweise rund um die Uhr Betreuung und Pflege, sie können sich meist nicht selbst beschäftigen, auch nicht für eine ganz kurze Zeit. Diese Situation gilt es mit Homeoffice oder Arbeit außer Haus irgendwie unter einen Hut zu bekommen. Und in manchen Familien kommt noch die Dauersorge hinzu, dass das Kind zu den Corona-Risikogruppen zählt und abgeschirmt werden muss. „Es ist sehr anstrengend, aber wir müssen durch die Zeit der Schulschließung durch“, erzählt ein Vater, dessen Tochter normalerweise die Schule St. Franziskus in Ingerkingen besucht.
„Der lange Zeitraum der Schulschließung ist für viele Familien belastend“, weiß Thomas Kehm, der Leiter der Schule St. Franziskus. 126 Schüler zählt St. Franziskus aktuell, 53 von ihnen wohnen im stationären Bereich in Ingerkingen und werden dort weiter betreut, 73 sind Externe. Die Unterrichtszeiten der Kinder entsprechen an drei von fünf Tagen die Woche denen einer Ganztagsschule. Mit der Fahrt nach Ingerkingen und der Heimfahrt sind die Externen dann teilweise von 7.30 bis 17 Uhr außer Haus.
Für die berufstätigen Eltern galt es mit der Schulschließung, Knall auf Fall, ihren Alltag umzuorganisieren. Für Beschäftigung und Ablenkung zu sorgen, heißt seither die tägliche Herausforderung für sie.
„Abends sind wir erledigt“, erzählt die Mutter eines zehnjährigen Schülers, wie es ihr und ihrem Mann mit der Doppelbelastung Homeoffice/ Teilzeit und Betreuung zurzeit geht. Rund um die Uhr muss der Zehnjährige, ein Kind mit geistiger und körperlicher Behinderung, versorgt und gepflegt werden. „Weil er Gefahren überhaupt nicht einschätzen kann, müssen wir ihn ständig im Auge behalten“, erzählt die Mutter. „Ich kann nicht sagen, beschäftige dich bitte selbst.“Seine Krankengymnastikübungen am Spezialgerät, das zu Hause steht, setzt sie jetzt noch öfter auf den Plan. Schulaufgaben wie Lesen oder Rechnen, die bei anderen Kindern die Vormittage füllen, stehen nicht an. Denn für den Zehnjährigen geht es in der Schule nicht um klassischen Unterrichtsstoff, den man zu Hause büffeln könnte, sondern darum, Alltagsdinge zu lernen, zum Beispiel, wie man allein die Jacke anzieht. „Das trainieren wir natürlich weiter“, sagt die Mutter. Vormittagfüllend und vor allem für das Kind alleine leistbar ist das indes nicht.
„Man denkt immer, hoffentlich bekomme ich das Kind gut beschäftigt“, fasst die Mutter die Alltagssituation zusammen. Einmal haben sie ein Video gedreht und der Lehrerin geschickt, über die Anrufe von Schulleiter und Lehrerinnen hat sich die Familie besonders gefreut.
Auch die kleinen Belohnungen, die sich Eltern und Sohn sonst am Wochenende gönnen, fallen aktuell weg. Statt Ausflügen gibt es nur noch Spaziergänge,
denn der Zehnjährige zählt wegen seiner Lunge zur Risikogruppe. „Wir igeln uns ein“, sagt die Mutter. „Wir können es nicht ändern, wir können nur unseren Sohn schützen.“Anstrengend sei es, findet sie. „Aber das kennen wir. Andere haben mehr zu kämpfen, vor allem die Familien, in denen noch weitere Kinder sind, die daheim beschult werden müssen.“
Den Coronaalltag im Fünf-Personenhaushalt zu bewältigen, vor der Aufgabe steht eine andere Familie, deren Tochter Schülerin in St. Franziskus ist. An den Tagen, an denen die Mutter Teilzeit arbeitet, ist der Vater im Homeoffice. „Zum Glück ist mein Arbeitgeber sehr flexibel“, sagt er.
Für die Tochter, einen Teenager mit geistiger Schwerbehinderung, müsse rund um die Uhr jemand da sein, erzählt der Vater. Sie könne nicht sprechen, brauche auch bei der Körperpflege Hilfe. In der Schule geht es für das Mädchen normalerweise darum zu lernen, sich ohne Worte auszudrücken oder es zu schaffen, sich selbst zu beschäftigen. „Wir merken gerade wie viele Eltern auch, dass die
Lehrer einen besseren Zugang haben und wundern uns, was sie kann und wie geduldig sie in der Schule ist. Die Autorität eines Lehrers ist halt doch etwas anderes“, sagt der Vater.
Sehr umtriebig sei das Mädchen. Doch vieles fällt erst einmal weg, auch die externe Physiotherapie. Spaziergänge oder eine Fahrt mit dem Spezialrad mit Vordersitz, viel mehr gehe nicht mehr, sagt der Vater. „Sie langweilt sich unheimlich.“
Die zwei älteren Geschwister hätten eigentlich ein Lernpensum zu bewältigen und bräuchten Ruhe. Umso mehr freuen die Eltern sich über die Solidarität der Großen. „Das ist die schöne Erkenntnis aus den vergangenen Wochen: Die älteren Geschwister kommen und nehmen ihre Schwester zu sich, um uns zu entlasten.“
Die Familie hofft nun, dass die Schultüren bald wieder aufgehen. „Aber wenn es am 20. April nicht der Fall ist, dann muss es halt daheim weitergehen“, sagt der Vater. „Wir sind es gewohnt, den Blick darauf zu richten, was jetzt ist, und nicht darauf, was irgendwann sein könnte.“