Schwäbische Zeitung (Biberach)
75 Jahre Kriegsende: Warum Johann Belser sterben musste
Hobbyhistorikerin Karin Schöntag erinnert in ihren Artikeln an die Schicksale von NS-Opfern aus Winterstettenstadt
WINTERSTETTENSTADT - In wenigen Wochen jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Noch immer tun sich viele Deutsche schwer damit, an diese Zeit zurückdenken. Dabei sei es heute wichtiger denn je, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, findet Karin Schöntag. Die Hobby-Historikerin aus Winterstettenstadt schreibt auch mit 76 Jahren immer noch gerne für das Magazin „Der Winterstetter“historische Rückblicke. Ihr neuester Artikel widmet sich dem Schicksal von Johann Konrad Belser.
Auf die Idee hat sie Eugen Mohr gebracht, seiner Zeit letzter Bürgermeister von Winterstettenstadt. Mohr, mittlerweile 95 Jahre alt und immer noch geistig fit, erlebte als Bub noch Auftritte von Johann Konrad Belser mit. Denn dieser war Zirkusartist. Belser war Mitte der 1930er-Jahre Mitglied eines kleinen Wanderzirkus und trat auch als Solokünstler auf. „Ein Beruf, den die Nazis als entartet betrachteten, weswegen er 1938 dann wahrscheinlich ins KZ Sachsenhausen kam, wo er kurz darauf auch starb“, fand die Hobbyhistorikerin heraus.
Sowohl im neu geordneten Archiv in Winterstettenstadt als auch im Kreisarchiv fand sie mehrere Hinweise auf das turbulente Leben des Winterstetters. Die Quellen legen nahe, dass Johann das Kind der gebürtigen Winterstetterin Magdalena Bleser und eines Italieners war, der für den Bau der Eisenbahn in die Region gekommen war. Der Handwerker hatte damals wohl einige Zeit im Dorf gewohnt. Das Ergebnis war das gemeinsame Kind, das 1913 geboren wurde. Karin Schöntag fand seinen Namen und das Geburtsdatum im Familien- und Geburtsregister von Winterstettenstadt.
Wie Karin Schöntag in ihrem Artikel
schreibt, der in Kürze im „Winterstetter“veröffentlicht werden soll, zeigt dieses Schicksal deutlich, wie die Doppelmoral des 19. und 20. Jahrhunderts sich ausdrückte. Während es toleriert wurde, dass Männer vor der Ehe Sex hatten, wurden Frauen dafür gebrandmarkt. Johann galt als Bastard und bekam dies im Dorf wahrscheinlich immer wieder zu spüren. Trotzdem gelang es seiner Mutter Magdalena, sich im Jahr 1913 zu verheiraten, wodurch das uneheliche Kind legitimiert wurde. Geredet wurde im Dorf aber weiterhin. Im Ortsarchiv Winterstettenstadt fand Schöntag Nachweise für ein sogenanntes Sühnesuchverfahren im Jahr 1920. Obwohl Magdalena Belser inzwischen schon sieben Jahre verheiratet war, hatten zwei Männer aus dem Dorf anscheinend öffentlich behauptet, dass Johann eben nicht ihr Kind mit dem gemeinsamen Ehemann, sondern ein Bastard sei. Daraufhin verklagte sie diese beiden
Männer wegen übler Nachrede. Anhand verschiedener weiterer Quellen konnte Schöntag nachweisen, dass die Mutter von Johann mehrere weitere Kinder bekam und sich erneut verheiratete, nachdem ihr erster Ehemann 1920 starb. 1923 starb dann auch Magdalena, mit nur 36 Jahren. Weitere Dokumente im Archiv belegen, dass der Junge nach dem Tod seiner Mutter unter der Vormundschaft des Jugendamts stand. Bis 1931 arbeitete er als
Dienstknecht bei Schultheiß Müller.
Danach gibt es einige Lücken im Lebenslauf von Belser, doch Mitte der 1930er-Jahre taucht er wieder auf in Winterstettenstadt und nun eben als Artist. Eugen Mohr, damals noch ein Kind, erinnert sich nach eigenen Angaben gut an die Auftritte Belsers. Er erinnert sich auch daran, dass man ihm im Dorf den Spitznamen Mussolini gegeben hatte, wahrscheinlich wegen seinem italienischen Vater. Später habe es auch das
Gerücht im Dorf gegeben, dass Belser der Spionage verdächtigt und deshalb erschossen worden sei. Die Faktenlage ist hier jedoch unklar.
Schöntag vermutet, dass der damalige NS-Ortsgruppenleiter etwas mit der Verhaftung Belsers und seinem Transport ins KZ Sachenhausen zu tun hatte. „Genau lassen sich seine letzten Monate nicht mehr rekonstruieren, aber die Nazis haben mit Misstrauen auf Künstler geschaut“, weiß sie. Ihr erscheint es wichtig, dass gerade in Zeiten, in denen die Gräuel der Nazis in Vergessenheit geraten und in denen mit der AfD eine neue nationalistisch orientierte Partei erstarkt, die Menschen daran erinnert werden, was in Deutschland einst geschah. „Es gibt auch bei uns im Dorf einige, die nicht hören wollen, was ihre Großeltern oder Onkel einst gewusst und getan haben, aber wir müssen uns erinnern. Nur so können wir daraus lernen und die Zukunft besser gestalten“, ist sich Schöntag sicher.