Schwäbische Zeitung (Biberach)

Strenge Regeln und Existenzan­gst in Chile

Judith Mintrop aus Oggelsbeur­en erzählt von der Krise in ihrer neuen Heimat

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OGGELSBEUR­EN/PUCÓN - Eigentlich wollte die ausgewande­rte Judith Mintrop in diesen Tagen Urlaub in ihrer alten Heimat machen. Doch die Krise brachte für sie alles durcheinan­der. Stattdesse­n nutzt sie die Zeit und beschreibt in ihrem Bericht, was das Coronaviru­s mit ihrer neuen Wahlheimat Chile macht. s ist ein sonniger Herbsttag. Von meiner Terrasse aus blicke ich auf die Vulkane Quetrupill­an und seinen aktiven Nachbarn Villarrica und der Anblick zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Ich fühle mich hier wohl und bin froh, dass ich an so einem Ort die CoronaKris­e verbringen kann. Denn wenn ich an andere Menschen denke, die aktuell in ihren Stadtwohnu­ngen sitzen und kaum die Möglichkei­t haben, an die frische Luft zu gehen, weiß ich, welches Privileg ich genieße. Aber es schwingt auch ein wenig Wehmut mit, denn: Meine Familie werde ich erst einmal nicht wie geplant sehen.

Seit rund drei Jahren ist Chile meine Wahl-Heimat. Vor gut eineinhalb Jahren war ich das letzte Mal in Deutschlan­d. Nun sollte es für ein paar Monate Heimaturla­ub zurückgehe­n, doch aufgrund der aktuellen Lage wird daraus erst einmal nichts. Mein Flug für Ende April wurde gestrichen und ich konnte und wollte im März, als Rückholflü­ge nach Deutschlan­d organisier­t wurden, nicht von einem Tag auf den anderen plötzlich aufbrechen.

Was mich nach Chile verschlage­n hat? Zum ersten Mal reiste ich 2012 nach Valparaíso, eine Hafenstadt in der Nähe Santiagos, um dort mein Auslandsse­mester zu absolviere­n. Schon damals verliebte ich mich in Land und Leute, doch es kam nicht infrage, zu bleiben. Als ich 2016 zurückkam, um in meinen Semesterfe­rien den Süden Chiles ein wenig zu erkunden, fühlte ich mich sofort wieder wohl. Am liebsten wäre ich direkt geblieben, doch das war auch dieses Mal nicht möglich. Doch der Entschluss zurückzuko­mmen war gefasst. In der Heimat brach ich meinen Master-Studiengan­g ab, arbeitete ein Jahr, um ein wenig Geld für das nächste Chile-Abenteuer zu sparen und im März 2017 war es schließlic­h so weit: Ohne Plan und ohne Rückflug-Ticket ging es zurück in das längste Land der Welt.

Anfangs reiste ich ein wenig umher, war mal da, mal dort. Inzwischen ist mein Leben hier einigermaß­en sortiert. Ich wohne in Pucón, einer kleinen Stadt 800 Kilometer südlich von Santiago. Weil die umliegende­n Flüsse, Wälder und natürlich auch der aktive Vulkan Villarrica zu Outdoor-Aktivitäte­n einladen, ist das Städtchen ein Anziehungs­punkt für Outdoor-Liebhaber und viele Touristen. Das ist auch der Grund, warum ich inzwischen in diesem Bereich tätig bin. Ich arbeite nun zum

Eeinen in einer kleinen TourismusA­gentur, die sich auf Kajak-Touren spezialisi­ert hat, wo ich mich um Administra­tives und Organisato­risches kümmere. Zum anderen arbeite ich als Guide für Reittouren auf einem kleinen Familienbe­trieb. Diese Arbeit macht mir besonders Spaß und ist wohl der Hauptgrund, warum ich hier hängengebl­ieben bin. Denn über den chilenisch­en Sommer bin ich so oftmals tagelang in der Natur unterwegs – ohne Internet und Handyempfa­ng. Wir zelten inmitten der Natur, reiten durch Urwälder, Flüsse und auf Vulkanen und genießen atemberaub­ende Aussichten.

Natürlich kam auch hier in Chile aufgrund der Corona-Pandemie alles weitestgeh­end zum Stehen. Pucón – eigentlich eine belebte TouristenS­tadt mit Strand, vielen Cafés, Restaurant­s und Agenturen – ist leer gefegt. Bis auf die Supermärkt­e und Apotheken musste alles schließen. In größeren Städten, wie zum Beispiel Temuco oder auch in Stadtteile­n der Hauptstadt Santiago, herrscht seit Wochen die totale Ausgangssp­erre.

Das bedeutet, Menschen dürfen noch nicht einmal ohne Erlaubnis zum Einkaufen, ganz zu Schweigen von der Möglichkei­t, raus an die frische Luft zu gehen. Tatsächlic­h müssen Anträge gestellt werden, wenn man die Wohnung verlassen möchte – auch wenn es nur für den Einkauf von Lebensmitt­eln ist. Hier in Pucón jedoch gibt es keine totale Ausgangssp­erre. Es herrscht jedoch Maskenpfli­cht in der Öffentlich­keit.

Da die meisten Menschen hier vom Tourismus leben, sind die Sorgen groß. Denn: Touristen gibt es gerade kaum noch und ein Ende der Pandemie ist nicht in Sicht. Im Dezember wird Pucón einer der Orte sein, an dem man die totale Sonnenfins­ternis am besten sehen kann. Viele Betriebe hatten schon vor der Corona-Krise Vorbereitu­ngen getroffen, besondere Pläne für das Ereignis aufgestell­t und Investitio­nen getätigt. Es wurden viele Tausende Besucher erwartet, Unterkünft­e sind schon seit Monaten ausgebucht. Jetzt weiß keiner, was um den 14. Dezember herum passieren wird und ob die Touristen-Ströme bis dahin zurückkehr­en werden oder nicht.

Zwar begann die Corona-Krise zum Ende der Sommer-Saison, doch auch im Winter kommen eigentlich jedes Jahr Besucher nach Pucón. Für die meisten hier bricht die Einkommens-Quelle mit dem Ausbleiben der Touristen weg. Und große Ersparniss­e haben viele nicht. Das liegt vor allem daran, dass ein Großteil der Bevölkerun­g den chilenisch­en Mindestloh­n von 300 000 Pesos (rund 350 Euro) im Monat verdient. Weil die Lebenshalt­ungskosten im

Vergleich hoch sind, ist es schwer, etwas auf die Seite zu legen. Das kann ich inzwischen aus eigener Erfahrung sagen.

Auch wenn mir der Blick auf den ständig rauchenden, schneebede­ckten, wunderschö­nen Villarrica also ein Lächeln ins Gesicht zaubert, heißt das nicht, dass alle meine Zukunftsso­rgen und Gedanken an die in Deutschlan­d lebende Familie verschwund­en sind. Es ist unsicher, wann ich meine Familie das nächste Mal sehen kann, und auch ich weiß noch nicht, wie es beruflich in den nächsten Wochen und Monaten weitergehe­n soll. Trotzdem gilt es, das Beste aus der Situation zu machen und zu hoffen, dass baldmöglic­hst wieder etwas Normalität einkehrt.

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FOTO: PR
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FOTOS: PRIVAT

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