Schwäbische Zeitung (Biberach)
Sehnsucht nach dem Strafraum
Fußball: Nach dem Wechsel von den Spatzen zu den Kickers will David Braig zurück auf den Platz
DINTENHOFEN - Die Sportler führen derzeit ein Leben im Wartestand. Sie halten sich fit, aber auf Wettkämpfe müssen sie seit Wochen und noch auf unbestimmte Zeit verzichten. Alle wünschen sich die Rückkehr zur Normalität, doch bei keinem dürfte die Sehnsucht so groß sein wie beim Fußballer David Braig aus Dintenhofen. Nach mehr als einem Jahrzehnt bei den Ulmer Spatzen war Braig in der Winterpause vom Regionalligisten zum Oberligisten Stuttgarter Kickers gewechselt. Er absolvierte die Vorbereitung mit den Kickers, Testspiele, doch kaum hatte die Runde wieder begonnen, kam das Virus – und verhinderte, was der 28-Jährige seit einigen Monaten vermisst.
„Ich warte schon ewig lang, dass ich wieder kicken kann“, sagt David Braig. „Man sitzt wie auf heißen Kohlen.“Zwar trainieren er und seine Teamkollegen weiter, teilweise auch zur gleichen Zeit, aber nicht mehr an einem Ort. Dreimal pro Woche schalten sich die Kickers mit einem Coach über den Online-Dienst Zoom zusammen – Athletiktraining per Videokonferenz. „Das haben wir uns von den Bayern abgeschaut“, sagt Braig. An drei anderen festen Tagen trainieren die Spieler des Oberligisten für sich, bestreiten Intervall-Läufe und übermitteln ihre Leistungsdaten an die Trainer.
David Braig zog kürzlich von Ulm nach Stuttgart, doch fit hält er sich dort, wo er aufgewachsen ist. „Es ist angenehmer, auf dem Land zu laufen, als in der Stadt“, sagt der 28-Jährige. Seit einigen Wochen ist er in Dintenhofen und nutzt zusätzlich zum Trainingsprogramm des Vereins auch den Fitnessraum, den sein Vater vor einiger Zeit im Elternhaus eingerichtet hat. Braig genießt es auch, im Augenblick mehr Zeit zu verbringen mit den Eltern und mit dem Bruder, als es in der Vergangenheit möglich war und wie es wahrscheinlich sein wird, wenn das Leben des Fußballers wieder normal verläuft und er mit der Mannschaft in Stuttgart trainiert.
Das momentane Trainingspensum, die ungewohnten Abläufe machen ihm nichts aus – im Gegenteil: „Ich war schon immer einer, der gern trainiert hat, gerade auch im Athletik- und Kraftbereich“, sagt David Braig. Schwierig wird es, wenn auf Dauer eine Perspektive fehlt, wenn unklar bleibt, wofür man sich schindet und man nicht weiß, wann der Spielbetrieb fortgesetzt wird. „Man kann sich persönlich schon kleine Ziele setzen“, sagt er. Aber das große Ziel, das Sportler am stärksten antreibt im Training, das fehlt: der Wettkampf, das Spiel.
Braigs Wunsch, endlich wieder auf dem Platz zu stehen, ist groß – weil er genau das in der Vorrunde selten erlebt hat. Obwohl er fit war, wurde der Angreifer für die Regionalliga-Spiele der Spatzen nur noch selten berücksichtigt. Trainer Holger Bachthaler setzte auf andere Spieler, vor allem auf die, die er selbst verpflichtet hatte. So reifte in David Braig, der seit seiner Jugend ununterbrochen bei den Spatzen war, ein ihm bis dahin völlig abwegig erscheinender Gedanke: Dass er nach 13 Jahren Ulm verlassen muss, um als Fußballer noch einmal glücklich zu werden. „Am Anfang wollte ich es nicht wirklich wahrhaben“, so Braig. „Ulm ist mein Herzensverein, aber auf der Bank zu versauern, ist nicht mein Anspruch.“Im Dezember kam es zum Bruch, Verein und Spieler lösten den Vertrag.
Auch wenn die sportliche Situation für ihn zuletzt unbefriedigend war, fiel David Braig der Abschied von den Ulmer Spatzen schwer. Zum einen, weil als nächster Schritt der Aufstieg in die Dritte Liga geplant war, zum anderen, weil er so lange für den Traditionsverein gespielt und viel mit ihm erlebt hatte. Positives, aber auch Negatives.
Zweimal in dieser Zeit waren die Ulmer Fußballer insolvent, zweimal stand der Verein vor dem Nichts. „Einmal saß ich bei Anton Gugelfuß (heute Vorstandsmitglied des SSV Ulm 1846 Fußball, und er sagte mir, dass wir keine Spieler mehr hätten. Ich wäre der erste und dazu käme vielleicht noch Holger Betz.“Braig hätte in diesen schwierigen Stunden dem Verein den Rücken kehren können, wie all die anderen Spieler. Doch er blieb, trotz der ungewissen Aussicht, und um ihn und Torhüter Betz herum entstand eine neue Mannschaft. „Der Neuaufbau hat Riesenspaß gemacht“, so Braig. Und er mündete eines Tages in die Rückkehr in die
Regionalliga – einer von zwei Aufstiegen, die Braig mit den Spatzen erreichte. 2016 war das, David Braig hatte als mit Abstand bester Torschütze der Oberliga daran einen großen Anteil. „Wie wir am vorletzten Spieltag in Pforzheim die Meisterschaft klar gemacht haben, war einer der schönsten Momente für mich“, erinnert sich der 28-Jährige.
Weitere Erlebnisse, die im Gedächtnis bleiben, waren der erste Erfolg der Spatzen im WFV-Pokal nach langer Zeit und wenige Monate später der überraschende Sieg in der ersten DFB-Pokal-Runde im ausverkauften Donaustadion gegen Titelverteidiger Eintracht Frankfurt. „Das waren emotionale Momente, von denen man sich immer gern Bilder anschauen wird“, sagt Braig.
Nie vergessen wird er auch den Abschied, den ihm die Ulmer Fans im letzten Heimspiel vor der Winterpause im vergangenen Dezember bereiteten. Der Angreifer gehörte nicht mehr dem Kader an, sein Abschied war beschlossen, dennoch war er im Stadion und sah, wie ihn die Ultras mit einem großen Transparent und einer besonderen Choreografie feierten. Der Gedanke daran berühre ihn noch heute, sagt er, ebenso der große Zuspruch, den er zum Abschluss seiner Zeit bei den Spatzen von vielen Seiten erfuhr. „Es gab viele nette Worte, die mir gutgetan haben.“Auch von der Vereinsführung, zu der er stets ein gutes Verhältnis hatte. „Die Offiziellen haben mir gesagt, dass mir die Türen immer offen stehen“, so Braig.
Gleichwohl habe es anfangs geschmerzt, die Ulmer zu verlassen, als ihm bewusst geworden war, „dass man selbst kein Teil mehr davon ist“, sagt David Braig. „Aber man muss das abhaken, weil man die Energie braucht für eine neue Aufgabe.“Mit 28 Jahren wollte er noch nicht aufhören mit Fußball – zumal reizvolle Angebote kamen. David Braig hatte die Möglichkeit, weiter in der Regionalliga zu spielen, aber er entschied sich für den Wechsel in die Oberliga – wegen der Stuttgarter Kickers, einem Verein mit einer großen, bis in die Bundesliga reichenden Geschichte, bei dem er zudem in Sportdirektor Lutz Siebrecht und dem Spieler Johannes Ludmann frühere Ulmer Weggefährten sowie in Lukas Kling einen weiteren Bekannten traf. „Die Kickers sind ein Verein mit Tradition und Ultras, und solche Vereine wirken wie ein Magnet auf mich“, so Braig. Im Januar unterschrieb er für zweieinhalb Jahre bei den Blauen aus Degerloch.
Rein aus einem Nostalgiegefühl heraus fiel die Entscheidung jedoch nicht. David Braig sieht das Potenzial eines solchen Vereins und lässt keinen Zweifel daran, dass er mit den Stuttgarter Kickers rasch nach oben will. „Der Verein gehört nicht in die Oberliga“, sagt der 28-Jährige. Mit seinen Qualitäten, seiner Erfahrung und mit Toren will er dazu beitragen, dass die Kickers wieder in die Regionalliga zurückkehren. „Mal schauen, was die Zukunft bringt“, sagt Braig „Ich habe auf jeden Fall wieder Lust zu kicken.“
Und das so schnell als möglich und nicht mehr ausgebremst von einem Trainer oder einem Virus.