Schwäbische Zeitung (Biberach)
100 000 Tote – und ein Präsident, der sich lobt
Zahl der Corona-Opfer in den USA jetzt im sechsstelligen Bereich – Doch Trump will die Krise hinter sich lassen
WASHINGTON (dpa) - Beerdigungen in Massengräbern. Tote, die wegen übervoller Leichenhallen in Kühllastern aufbewahrt werden. Flaggen, die auf halbmast wehen. Es sind solche Bilder aus den vergangenen Tagen und Wochen, die vor Augen führen, wie hart die Corona-Pandemie die USA getroffen hat. Für das Ausmaß der Katastrophe steht nun auch eine Zahl: 100 000. Am Mittwochabend überstieg die Zahl der Todesopfer nach einer Statistik der Johns-Hopkins-Universität diese einst für undenkbar gehaltene Marke. Die Pandemie hat sich zur größten Krise in der Amtszeit von Präsident Donald Trump entwickelt. Ausgestanden ist sie noch längst nicht.
Der Kriegspräsident und das Eigenlob:
In zwei Jahrzehnten Krieg in Vietnam kamen 58 220 Amerikaner ums Leben. In der Corona-Krise wurde diese Opferzahl Ende April überstiegen, keine drei Monate nach dem ersten bekannten Todesfall. Noch Mitte April hatte Trump mit 60 000 bis 65 000 Toten durch das Virus gerechnet – nicht die einzige Vorhersage, mit der er falschliegen sollte. Kritik lässt Trump, der sich zum „Kriegspräsidenten“erklärt hat, dennoch nicht gelten. Im März gab er seinem Krisenmanagement zehn von zehn möglichen Punkten.
Trump sieht hohe Infektionszahlen als „Auszeichnung“:
Die JohnsHopkins-Universität hat rund 1,7 Millionen bestätigte Infektionen registriert, seit das Coronavirus sich in den USA verbreitet hat. Trump stellt diese Zahl zwar nicht infrage, das Ausmaß der Pandemie in seinem Land relativiert er aber trotzdem: Die vielen nachgewiesenen Infektionen führt der Präsident auf die Zunahme der Tests zurück. Die hohe Zahl der bestätigten Infektionen nannte er eine „Auszeichnung“– weil sie Ausweis der Qualität der amerikanischen Tests seien.
Vorwürfe gegen China:
Auch bei der Vielzahl an Toten sieht Trump keine Verantwortung bei sich. Stattdessen führt er an, dass er durch seine Einreisestopps für Ausländer aus China und Europa womöglich Millionen Menschenleben gerettet habe. Trump macht China gleichzeitig zum Sündenbock: Er kritisiert, die Chinesen hätten die Ausbreitung des Virus nicht an dessen Quelle gestoppt und dadurch enormen Schaden angerichtet. Am Donnerstag legte er per Twitter nach: Das Coronavirus sei „ein sehr schlechtes ,Geschenk‘ von China“. Die 100 000 Toten in den USA nannte er „eine sehr traurige Wegmarke“.
Trumps Hin und Her in der Krise:
Der Präsident hat in der Krise verschiedene Phasen durchlebt. Zusichts nächst versuchte er, die Gefahr kleinzureden, obwohl die Bedrohung angesichts der Lage in anderen Weltregionen längst offenkundig war. Vor rund zwei Monaten versicherte er noch per Twitter: „Das Coronavirus ist in den USA sehr gut unter Kontrolle.“In einer Ansprache an die Nation verkündete Trump dann am 11. März: „Wir befinden uns in einer kritischen Phase im Kampf gegen das Virus.“Keine zwei Wochen später stellte Trump dennoch eine Wiedereröffnung der US-Wirtschaft bis Ostern in Aussicht – was er ange
der Ausbreitung des Virus wieder einkassierte.
Trump und seine Richtlinien:
Seit gut einem Monat drängt Trump die Bundesstaaten nun dazu, die Schutzmaßnahmen zu lockern – paradoxerweise auch in Fällen, bei denen das gegen die von ihm präsentierten Richtlinien verstoßen würde. Der Republikaner rief zur „Befreiung“von drei Bundesstaaten auf, die von demokratischen Gouverneuren regiert werden. Bewaffnete Demonstranten, die Ende April ins Parlament in Michigans Hauptstadt Lansing eindrangen, nannte der Präsident „sehr gute Leute“. Ohnehin erweckt Trump nicht den Eindruck, als stünde er hinter den Schutzmaßnahmen des Weißen Hauses – so stellte er klar, dass er der Empfehlung, eine Atemmaske zu tragen, nicht folgen werde.
Ohne Kompass durch die Krise:
Spott handelte sich Trump ein, als er spekulierte, ob das Spritzen von Desinfektionsmittel in den Körper gegen das Virus helfen könnte. Nicht erst seit dieser Aussage werfen Kritiker dem Präsidenten vor, orientierungslos durch die Krise zu irrlichtern. Diese Krise scheint Trump nun unbedingt für beendet erklären zu wollen. Die Wahl am 3. November rückt näher, und ihm droht sein wichtigstes Wiederwahlargument abhandenzukommen: Der Boom der US-Wirtschaft ist durch die Pandemie jäh beendet worden. Der Präsident argumentiert zunehmend vehement, die Schutzmaßnahmen könnten mehr Schaden anrichten als verhindern. Auf mahnende Stimmen von Experten wie seinem Berater Anthony Fauci scheint Trump nicht viel zu geben. Der Immunologe warnte in der „New York Times“im Fall einer vorzeitigen Öffnung vor der „Gefahr mehrfacher Ausbrüche“im Land. „Das wird nicht nur unnötiges Leiden und Tod zur Folge haben, sondern würde uns tatsächlich auf unserer Suche nach einer Rückkehr zur Normalität zurückwerfen.“Der Präsident hat bereits betont, dass es einen erneuten Lockdown auch im Fall einer zweiten Infektionswelle mit ihm nicht geben soll – auch wenn darüber am Ende die Gouverneure der Bundesstaaten entscheiden.
G7-Gipfel im Weißen Haus?:
Trump will der Welt nun zeigen, dass die USA wieder offen für Geschäfte sind und zur Normalität zurückkehren. Das Signal, das er sich wünscht: dass der für kommenden Monat geplante G7-Gipfel der führenden Industrienationen nun doch in Washington tagt, statt wie geplant als Videoschalte abgehalten zu werden. Staats- und Regierungschefs auch aus Europa müssten dann ins Weiße Haus kommen – obwohl es noch kein Datum gibt, ab dem die Einreise in die USA für Europäer wieder erlaubt wäre. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lässt bislang offen, ob sie einer Einladung folgen würde.