Schwäbische Zeitung (Biberach)
Die Wut kocht über
Bei den Ausschreitungen in den USA entlädt sich der Frust über die soziale Ungleichheit
Es war im Jahr 1966, als der afroamerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King im Fernsehen erklärte, die Randale sei die Sprache derer, die sich anders kein Gehör verschaffen könnten. Wie aktuell der Satz ist, zeigt die Eskalation der Proteste, die mit friedlichen Demonstrationen in Minneapolis begannen und die nun, ausgenutzt von gewalttätigen Trittbrettfahrern, die gesamten USA erfasst haben.
Acht Minuten und 46 Sekunden drückte ein Polizist dem in Handschellen am Boden liegenden George Floyd das Knie auf den Hals, auch dann noch, als der sich schon nicht mehr regte. Ein Video dokumentierte all das – Floyds verzweifeltes Flehen, die Kaltblütigkeit seines Peinigers, die Appelle von Passanten, die den Officer Derek Chauvin aufforderten, endlich aufzuhören.
Dennoch nahm die örtliche Polizeiführung die vier beteiligten Beamten zunächst in Schutz. Weil Chauvin auf freiem Fuß blieb, kam die Protestwelle ins Rollen. Als er schließlich vier Tage nach der Tat angeklagt wurde, war es zu spät. Längst hatte sich in der Bevölkerung der Eindruck verfestigt, dass Seilschaften in blauen Uniformen selbst in diesem eindeutigen Fall mauern und die Institutionen allenfalls zögerlich bereit sind, die Täter zu bestrafen.
Das Gefühl schwarzer Amerikaner, Bürger zweiter Klasse zu sein, nicht wirklich erhört zu werden: Das Knie in Floyds Genick und das, was zunächst folgte, schien der aktuellste, krasseste Beweis dafür zu sein. So gesehen war die Szene unfassbarer Brutalität der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es ist vieles zusammengekommen in letzter Zeit. Die Pandemie hat Amerikas akutestes Gesellschaftsproblem, die wachsende soziale Ungleichheit, von Politologen seit mindestens drei Jahrzehnten thematisiert, schonungslos offengelegt.
Das Coronavirus trifft Menschen mit dunkler Haut, im statistischen Durchschnitt, härter als solche mit heller. Die Rate derer, die an Covid-19 sterben, ist unter Schwarzen dreimal so hoch wie unter Weißen. Es liegt daran, dass sie häufiger an Vorerkrankungen leiden, an Diabetes, Herzkrankheiten, Asthma oder Bluthochdruck. Es liegt an beengten Wohnverhältnissen und der Tatsache, dass sie überproportional vertreten sind in Berufen, denen man nun nicht im Homeoffice nachgehen kann, sei es an der Supermarktkasse oder hinter dem Lenkrad eines städtischen Busses. Das Konfliktpotenzial hat mit Corona nicht abgenommen. Wenn dann wieder und wieder bestätigt wird, wie hartnäckig sich die Vorurteile eines Denkens in Rasseschablonen halten, wird daraus ein Pulverfass.
Aufgabe des Präsidenten ist es, die Wogen zu glätten und Defizite zu benennen. Donald Trump tut das Gegenteil. Die Unruhen in Minneapolis beantwortete er mit einem Satz, der einst zum Sprachgebrauch rassistischer Südstaatler gehörte. „Wenn das Plündern beginnt, beginnt das Schießen“, twitterte Trump. Damit wiederholte der US-Präsident wortwörtlich, was George Wallace, über lange Jahre Gouverneur Alabamas und einer der verbohrtesten Anhänger der Rassentrennung, androhte, als er im Unruhejahr 1968 für das Weiße Haus kandidierte. Ob Trump wusste, wen er zitierte, ist nebensächlich. Er dürfte gewusst haben, wie viel Öl er mit solchen Worten ins Feuer gießt. Und wie er das Land einmal mehr spaltet.
Gewiss, nicht alles lässt sich damit erklären, dass Trump im Oval Office regiert. Im August 2014 – in Ferguson wurde der unbewaffnete schwarze Teenager Michael Brown von einem weißen Polizisten erschossen – hieß der Präsident Barack Obama. Die Bürgerrechtsinitiative „Black Lives Matter“, die nach Ferguson erst richtig in Schwung kam, war entstanden, weil auch die Ära Obama keineswegs das Ende brutaler Polizeiübergriffe bedeutete. Donald Trump allerdings setzt auf drakonische Härte. Er setzt auf die rhetorische Zuspitzung, um sich als Garant von „Law and Order“zu inszenieren.
Trump könnte nun darauf spekulieren, dass sich wiederholt, was 1968 geschah. Nach den tödlichen Schüssen auf Martin Luther King, den Prediger des gewaltlosen Widerstands, gingen in 34 amerikanischen Städten Geschäfte in Flammen auf.
Und im November wurde der Republikaner Richard Nixon, der Vertreter der harten Linie, zum Präsidenten gewählt.
Der alljährliche Gipfel von sieben großen Industrienationen (G7) hängt nach einer neuen Kehrtwendung von Donald Trump sehr in der Schwebe. Der US-Präsident schlug am Wochenende vor, das Treffen zu verschieben – am besten auf September – und dann auch andere Staaten wie Russland einzuladen. International stieß die Idee auf verhaltene Reaktionen, auch in Moskau. Zuvor hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) deutlich gemacht, dass sie wegen der Corona-Krise aktuell nicht bereit ist, zu einem Gipfel nach Washington zu reisen.
Trump begründete seinen Vorschlag am Samstagabend (Ortszeit) an Bord seines Präsidentenflugzeugs vor Journalisten damit, dass sich das Format der G7 überholt habe. Er habe nicht das Gefühl, dass die „sehr veraltete Gruppe“der Sieben (USA, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Japan, Italien und Deutschland) das Geschehen auf der Welt richtig abbilde. Als mögliche weitere Teilnehmer neben Russland nannte er Südkorea, Australien und Indien – nicht aber China.
Wegen der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim ist Moskau seit 2014 in dem Kreis nicht mehr dabei.
Russland selbst sieht nach der jüngsten Initiative noch reichlich Klärungsbedarf. „Im Moment kennen wir keine Details dieses Vorschlags“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge am Montag. „Es gibt hier viele Fragen.“(dpa)