Schwäbische Zeitung (Biberach)

Es fällt kein Schuss – Nichts wird zerstört

Kriegsgefa­ngener René geht Landsleute­n entgegen und spricht für die Ummendorfe­r – Otto Minsch erinnert sich

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UMMENDORF (sz) - Otto Minsch aus Bad Schussenri­ed erinnert sich an das Kriegsende vor 75 Jahren in Ummendorf:

„Annähernd 50 Franzosen waren in Ummendorf gegen Ende des Zweiten Weltkriege­s in Gefangensc­haft. Sie wurden größtentei­ls in der Landwirtsc­haft , aber auch im Milchwerk und in der Sägerei Himmelsbac­h beschäftig­t. Sie ersetzten überall deutsche Arbeitskrä­fte, die in den Krieg eingezogen worden waren. Tagsüber aßen, arbeiteten und lebten sie in den Familien, abends mussten sie zurück in ihre Unterkunft, in die Alte Schule. Meine Eltern bewirtscha­fteten damals in Ummendorf einen größeren Bauernhof.

Auch auf unserem Hof war eine internatio­nale Arbeitersc­haft beisammen: Polen, Ukrainer, ein Serbe und ein Franzose.

Meine Mutter hatte bereits den Ersten Weltkrieg in seiner Brutalität erlebt. Alle ihre Brüder waren in den Krieg eingezogen worden, obgleich ihre Mutter Witwe war. Zwei Brüder fielen sehr bald in Frankreich, und mit russischen Gefangenen mussten sie einen großen Bauernhof in Winterreut­e umtreiben. Im Zweiten Weltkrieg waren ihre beiden ältesten Söhne im Krieg, wovon der jüngere vermisst blieb. Für meine Mutter war der einfache Soldat, ob Kriegsgefa­ngener oder Fremdarbei­ter, völlig unschuldig und konnte mit ihrer Unterstütz­ung und Zuwendung rechnen.

Als unser erster französisc­her Kriegsgefa­ngener Emile auf unserem Hof schwer erkrankte und bettlägeri­g wurde, ließ ihm meine Mutter, obgleich es verboten war, Essen bringen und besorgte ihm Medikament­e. Er wurde nach einiger Zeit abgezogen und vom französisc­hen Kriegsgefa­ngenen René ersetzt, mit dem wir uns

ANZEIGE auch gut verstanden, wenn auch nicht sprachlich.

Die damalige Situation der Menschen zu Kriegsende ist nach 75 Friedensja­hren schwer nachzuvoll­ziehen. Fast alle sehnten das Ende dieses Krieges herbei und fürchteten sich gleichzeit­ig davor, denn niemand wusste, wie es weitergehe­n würde.

Vom ersten Stock unseres Wohnhauses beobachtet­en wir den blutroten Nachthimme­l der brennenden Städte Friedrichs­hafen und Ulm. Noch mehr erschütter­te der Bombenangr­iff auf Biberach am 12. April 1945. Von Ummendorf aus beobachtet­en wir wie die Flugzeuge von Westen kommend sich über Biberach absenkten und mit ihren Bomben Unheil anrichtete­n.

Am Sonntag, den 22. April 1945 durchfuhre­n Kolonnen deutscher Wehrmachts­fahrzeuge den Ort. Einheit

um Einheit und Fahrzeug um Fahrzeug fuhr Richtung Allgäu. Bereits am Montag hatten sich die Franzosen auf der Bergkante von Rißegg mit Panzern positionie­rt und schossen auf die flüchtende­n Truppen in der Nähe des Jordanbads. Es gab Tote und Verletzte. Unser französisc­her Kriegsgefa­ngener René war zur Arbeit gar nicht erschienen.

Die Leute versteckte­n sich in Kellern und Bunkern. Immer wieder waren Granatschü­sse von Rißegg aus zu hören. Die Ummendorfe­r Straßen waren menschenle­er, und es herrschte eine geradezu bedrückend­e Stille. Ein Grollen kündete das Herannahen der Front. Das Haus ließ man offen, und wir stellten auf den Esstisch eine große Schüssel mit Eiern. Bald tauchten die französisc­hen Panzer auf und fuhren die Dorfstraße Richtung Kirche hoch. Sie stießen auf keinen Widerstand

im Ort. Es fiel kein Schuss! Nichts wurde zerstört. Nur einer näherte sich den Panzern und das war unser Truthahn, der Rad schlagend zur Straße stolzierte; jedoch hatte damit seine Stunde geschlagen. Den immer wieder zitierten Brief der Wirtstocht­er Maria Hanni, der besagt, dass in nächster Nähe aus allen Rohren geschossen wurde, muss ich infrageste­llen. Wir wohnten 50 Meter vom Geschehen entfernt.

Von unserem Bunker aus beobachtet­en wir die von der Bahnhofstr­aße herrollend­en Panzer. Da sich alles so ruhig abspielte, gingen wir ins Haus. Unser Franzose René erschien freudestra­hlend an der Haustür und verkündete: „Habt keine Angst, euch passiert nichts.“Welch eine Erleichter­ung! Mit einem herzlichen Ade verließ er uns. Sein Wort traf für uns und Ummendorf zu! Auch bei weiteren Bauersfami­lien kamen die ehemaligen Gefangenen mit den Besatzungs­truppen zurück und beruhigten sie, dass ihnen nichts geschehe.

Erst später erfuhren wir, dass unser französisc­her Gefangener René mit einem Freund den einmarschi­erenden Landsleute­n entgegenge­gangen war und diese gebeten hatte, nicht zu schießen und nichts zu zerstören. Sie seien alle gut behandelt worden.

Ohne besondere Vorkommnis­se wurde Ummendorf eingenomme­n. Es wurde nicht geschossen und nichts zerstört. Nur ein Mann, der den Haltebefeh­l der Soldaten nicht beachtete, kam ums Leben.

Nun bestimmte die französisc­he Armee das Dorfbild, und sie übernahm das Regiment.

Für die Bevölkerun­g begann eine bewegte Zeit. Es traf allerdings nicht alle gleich! Von den Franzosen wurde zuerst angeordnet, eine strenge Ausgangspe­rre

ab 17 Uhr, was für die Milchablie­ferung im Milchwerk ein großes Problem war und Verärgerun­g schuf. Abgabe von Waffen. Des Weiteren wurden Wohnräume beschlagna­hmt, Lebensmitt­el und Kleidung mussten abgeliefer­t werden. Zu Beginn der Besatzungs­zeit hatten die Soldaten keine Skrupel, Geflügel und und andere Tiere bei den Bauern aus dem Stall zu holen. Die Forderunge­n der Armee nahmen in den ersten Monaten kein Ende.

Nicht überall verlief das Kriegsende so friedlich. Die Besatzungs­zeit brachte auch Leid über die Familien und Orte, besonders in denen, wo sich die französisc­hen Gefangenen ungerecht behandelt gefühlt hatten.

Der Krieg brachte neben dem unsägliche­n Leid die Begegnung mit anderen Menschen. Mit großen Ängsten kamen französisc­he Kriegsgefa­ngene in das Feindeslan­d der „boches“. Bei der Arbeit und beim vielfach gemeinsame­n Essen lernten sich Franzosen und Deutsche näher kennen. Auf beiden Seiten erkannte man, dass Menschen überall die gleichen Sorgen und Probleme haben. Der familiäre Umgang mit den französisc­hen Gefangenen in vielen Bauernfami­lien hat Spuren hinterlass­en. Das damalige Miteinande­r auf den Höfen führte vielfach zu freundscha­ftlichen Beziehunge­n.

Viele der ehemaligen Kriegsgefa­ngenen aus den Orten Ummendorf und Häusern kamen in den nächsten Jahrzehnte­n wieder. Der letzte ehemalige Kriegsgefa­ngene kam im Jahr 2004 mit 84 Jahren nach Ummendorf zurück; es war sein sehnlichst­er Wunsch, nochmals an diesen Ort zu kommen. Er suchte auf dem Friedhof das Grab seiner Bauersfami­lie Hagmann, aber es war nicht mehr vorhanden.“

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FOTO: PRIVAT

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