Schwäbische Zeitung (Biberach)
Das Ungetüm aus der Kanalisation
Nicht alles, was in der Toilette landet, gehört hinein – Welche Probleme im Südwesten durch Müll und Fett im Abwasser entstehen
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RAVENSBURG - 250 Meter lang und tonnenschwer ist das Ungetüm, das die Londoner im Jahr 2017 in ihrer Kanalisation finden. Der Berg aus Windeln, Kondomen, Feuchttüchern und hartem Kochfett war über die Jahre im Untergrund auf ein stattliches Gewicht von 130 Tonnen angewachsen und verstopfte nun die Kanäle im Stadtteil Whitechapel. Die Geschichte des „Fettbergs“ging damals um die Welt. Das Problem: Viele Briten spülen Abfälle die Toilette hinunter und entsorgen immer mehr heißes Fett in der Kanalisation, das dann den Müll zu einer steinharten Masse verklebt. Dementsprechend müssen in Großbritannien immer wieder Abwasserkanäle von solchen Bergen aus Fett und Müll befreit werden.
Probleme, die auch Erwin Schäfer kennt: „Das verursacht Verstopfungen an Pumpen, Rohrleitungen und Schiebern.“Im Klärwerk Steinhäule in Neu-Ulm passiere das einmal pro Woche, erklärt Schäfer, der Betriebsleiter des Klärwerks ist. Woran das liegt, zeigt der 57-Jährige in einer Halle des Klärwerks. Vor Schäfer thronen drei große Metallschränke, in denen Stahlrechen untergebracht sind. Der Mann mit grauem Haar, Brille und schwarzer Lederjacke öffnet einen der Schränke und deutet auf die einzelnen Zinken des Rechens, in denen das hängt, was an Grobstoffen nicht ins Abwasser gehört: „Hier haben wir jetzt relativ viel Plastikmüll mit drin: Schokoriegeltüten, Damenbinden“, schildert Schäfer und ergänzt: „Und Feuchttücher, die machen uns massive Probleme.“
Die finde er inzwischen immer öfter in den Zulaufrechen, berichtet der Betriebsleiter. Weil sie aus reißfesten Fasern bestehen, könnten sie im Abwassersystem sogenannte Verzopfungen bilden. „Fünf Meter lang können die werden – solche Dinger“, sagt Schäfer und deutet zwischen seinen Händen den Durchmesser eines Fußballs an. Manche Kollegen würden diese Feuchttüchergebilde sogar Anakonda nennen.
350 bis 400 Tonnen Material bleiben jährlich in den Rechenanlagen des Klärwerks Steinhäule hängen, zusätzlich werden 35 Tonnen reines Fett aus dem Abwasser geholt. Das Klärwerk reinigt das Schmutzwasser der zwölf Städte und Gemeinden des zugehörigen Zweckverbands, darunter Ulm, Neu-Ulm und Blaubeuren. Die Entsorgung der gesammelten Abfälle koste im Jahr etwa 60 000 Euro, sagt Schäfer. Rund 70 Prozent dieses Rechenguts sei Toilettenpapier, die restlichen 30 Prozent Müll. Zu viel, wenn es nach Schäfer geht: „Die 30 Prozent sind schon noch heftig.“
Das ist nicht nur im Klärwerk Steinhäule der Fall. Ein Sprecher des baden-württembergischen Landesumweltministeriums bestätigt das Fett- und Müllproblem: „Grundsätzlich ist dies ein Thema für ganz Baden-Württemberg, unabhängig ob städtischer oder ländlicher Raum.“Drohen dem Südwesten also Fett- und Müllberge in den Abwassersystemen? Verschiedenen Städten in der Region bereiten die Fett- und Müllablagerungen im Abwasser Kopfzerbrechen.
Zum Beispiel Friedrichshafen: Die Zunahme der Störhäufigkeit an Pumpwerken aufgrund von Verstopfungen durch Feucht- und Allzwecktücher oder Frittierfett sei auffällig, sagt Stadtsprecherin Monika Blank. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Tuttlingen: „Die Stadtentwässerung Tuttlingen beobachtet seit geraumer Zeit, dass sich insbesondere die Fettmenge im Abwasser erhöht hat.“Anders in Aalen: „Es gab wohl vor vielen Jahren einen Einzelfall einer Kanalverstopfung durch eine Gaststätte, die keinen Fettabscheider hatte“, meint Igor Dimitrijoski, Sprecher der Stadtwerke Aalen. Ansonsten sei kein Fall bekannt. Auch in Ravensburg seien zurückliegende Probleme etwa durch den Einbau von Fettabscheidern bereinigt worden, sagt Stadtsprecher Alfred Oswald. „Größere Probleme mit Fettablagerungen bestehen derzeit im Ravensburger Kanalnetz nicht.“
Sind an Verstopfungen durch Fett in den Kanälen also Gastronomen schuld? Das glaubt zumindest die Stadtentwässerung Mannheim. Sie hatte jüngst darauf aufmerksam gemacht, dass Ablagerungen von erkaltetem Fett und anderen Abfällen die Leitungen verstopfen, aggressive Säuren aus Fettablagerungen die Kanalrohre angreifen könnten. Als Verursacher vermutet die Stadtreinigung vor allem Restaurants und Imbissbuden. „Die haben entweder keinen Fettabscheider oder reinigen ihn nicht“, sagt Abteilungsleiter Hartmut Schulz.
Das will das Gastgewerbe so nicht auf sich sitzen lassen. Er rate von pauschalen Schuldzuweisungen in Richtung einer Branche ab, sagt Daniel Ohl, Sprecher des Hotelund Gaststättenverbands Dehoga Baden-Württemberg. Die Mehrzahl der Betriebe müsse einen Fettabscheider vorweisen. Die Pflicht folge aus dem Wasserhaushaltsgesetz in Verbindung mit der örtlichen Abwassersatzung. „Diese sehen vor, dass ausreichende Schutzmaßnahmen getroffen werden müssen, um eine Schädigung des Abwassers zu vermeiden.“Nur kleine Betriebe mit geringem Essensaufkommen seien davon ausgenommen, berichtet Ohl.
Auch befragte Kommunen und Abwasserzweckverbände in der Region schätzen, dass ebenso private Haushalte die Müllverursacher
Betriebsleiter vom Klärwerk
Steinhäule in Neu-Ulm sind. Ein Sprecher des Landesumweltministeriums berichtet: „Abhängig von der Art des über das Abwasser entsorgten Mülls kann auf den Hauptverursacher geschlossen werden, aber in der Regel nicht auf den Einzelbetrieb.“Bei fetthaltigen Stoffen seien das oftmals Gastrobetriebe, bei Feuchttüchern sowohl Gastrobetriebe als auch private Haushalte.
Auch in der Bevölkerung soll dafür ein Bewusstsein geschaffen werden. Darum setzt der Zweckverband
„Und Feuchttücher,
die machen uns massive Probleme.“
Klärwerk Steinhäule auf Aufklärung, bietet Führungen durch das Neu-Ulmer Klärwerk an. Und während Erwin Schäfer über die 35 Fußballfelder große Anlage führt, merkt man, dass der 57-Jährige in seiner Arbeit aufgeht. Seit 26 Jahren arbeitet er im Klärwerk, seit 2017 als Betriebsleiter. Schritt für Schritt erklärt Schäfer die Aufgaben der in verschiedene Reinigungsstufen aufgeteilten Wasserbecken auf dem Gelände, was wo herausgefiltert wird und wie lange ein Wassertropfen
durch die Kläranlage bis zur Einleitung in die Donau braucht: nämlich zwölf Stunden.
Bedeutend für den Umweltschutz ist die sogenannte vierte Reinigungsstufe im Klärwerk Steinhäule. Sie folgt auf die mechanischen, biologischen und chemischen Reinigungsschritte und soll Spurenstoffe wie etwa Arzneimittelrückstände oder Hormone aus dem Abwasser filtern.
Quasi eine Rarität. Denn nicht einmal 20 der 900 kommunalen Kläranlagen in Baden-Württemberg haben aktuell diese Reinigungsstufe. Laut Landesumweltministerium existieren in Deutschland bisher noch keine gesetzlichen Vorgaben für kommunale Kläranlagen, um etwa Arzneimittelreste aus dem Wasser zu holen. Jedoch erklärt ein Ministeriumssprecher: „In BadenWürttemberg wird der Ausbau von Kläranlagen zur Spurenstoffelimination aus Vorsorgegründen bereits seit einigen Jahren intensiv gefördert. Für die zusätzliche Reinigung haben sich Verfahren zur Behandlung des Abwassers mit Aktivkohle oder Ozon bewährt.“Frank Bringewski von der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall (DWA) lobt: „Bei der Entfernung solcher Dinge ist insbesondere Baden-Württemberg bundesweit ein Vorreiter.“Jedoch würden die Kosten für weitere Reinigungsstufen über Gebühren und Beiträge auf die Verbraucher umgelegt.
Auch die Stadt Ravensburg setzt im Klärwerk Langwiese bereits auf die Reinigung mit Aktivkohle. Trotzdem warnt Stadtsprecher Oswald, dass die Wirkstoffe nicht vollständig aus dem Abwasser gefiltert werden können – und so etwa für die Fische in der Schussen schädlich sein könnten. Das bestätigt Gottfried May-Stürmer. Der Biologe ist Referent für Wasserund Landwirtschaft beim Umweltverband BUND Baden-Württemberg. Arzneimittelreste im Wasser könnten sich laut Untersuchungen etwa negativ auf die Fischpopulation auswirken: Durch Hormone im Wasser könnten sich diese schlechter vermehren. Sinnvoll findet er darum einen Stufenplan, um bevorzugt große Kläranlagen mit vielen Nutzern und Industrie aufzurüsten. Dabei setze die Landesregierung die Prioritäten bereits richtig, bewertet der Biologe.
Doch auch trotz vierter Reinigungsstufe landen im Südwesten gerne mal Müll und Fäkalien ungeklärt in den Flüssen – zum Beispiel bei Starkregen. Das liegt am Abwassersystem: Zwei Drittel der Siedlungsfläche im Land werden im Mischsystem entwässert. Im Gegensatz zum Trennsystem laufen dabei Regen und Abwasser gemeinsam in einem Rohr bis ins Klärwerk. In trockenen Zeiten sammelt sich der Müll in den Kanälen, welcher bei Regen dann in Regenüberlaufbecken gespült und nach und nach gedrosselt zur Kläranlage geleitet wird.
Das klappe zwar zum Teil, sagt May-Stürmer. Jedoch seien viele Regenüberlaufbecken in den 1970erund 1980er-Jahren gebaut worden und heute „hoffnungslos unterdimensioniert“. Mancherorts hängen laut dem BUND-Referenten zu viele Wohngebiete an einem Regenüberlaufbecken. „Ich halte überlastete Regenüberlaufbecken für die größte und wichtigste Quelle organischer Belastung unserer Bäche und Flüsse.“Erfreulicherweise werde heutzutage bei vielen Neubaugebieten bereits auf das Trennsystem gesetzt. Überlastete Regenüberlaufbecken müssten aber vergrößert oder die Drosselmenge zur Kläranlage erhöht werden.
Wie häufig Mischwasser in Flüsse geleitet wird, hängt laut Landesumweltministerium von verschiedenen Faktoren ab: etwa wie groß ein Becken ist oder wie viel es regnet. „Dabei findet in den Bauwerken eine Aufteilung der Abflüsse statt. Der Hauptanteil wird zur Kläranlage geleitet und dort behandelt.“Der geringere Anteil werde gegebenenfalls nach mechanischer Behandlung in die Flüsse geleitet. „Im Durchschnitt entlasten Regenüberlaufbecken etwa 20- bis 25-mal im Jahr“, sagt der Sprecher. Dabei könnten kurzzeitig Stoffe in Gewässer eingetragen werden.
Laut Biologe May-Stürmer sind das vor allem Fäkalien. Damit die im Fluss abgebaut werden, brauche es Sauerstoff. „Das führt dazu, dass der Sauerstoffgehalt zurückgeht. Empfindliche Arten wie die Forelle oder die Köcherfliege halten das nicht aus. Damit geht die Artenvielfalt und die Selbstreinigungskraft des Gewässers zurück“, sagt er. Kolibakterien oder Salmonellen könnten in Flüssen nachgewiesen werden. „Das wird für den Mensch spätestens dann ein Problem, wenn darin jemand schwimmen oder spielen will“, meint May-Stürmer.
Zumindest in puncto Fett in der Kanalisation kann er für BadenWürttemberg aber ein Stück weit Entwarnung geben. Von Fettbergen wie in England wisse er in der Region nichts. Dennoch appelliert May-Stürmer: „Das ist natürlich eine Sauerei, die Toilette ist keine Müllkippe.“
Laut DWA-Sprecher Frank Bringewski haben die englischen Fettberge kein Äquivalent in Kanalisationen in Deutschland. Der Grund: „In Deutschland werden Kanalisationen umfassender, geplanter und häufiger inspiziert und gereinigt als in England, wo man gerne eine „Feuerwehrstrategie“verfolgt.“
Wie auch beim bisher größten entdeckten Londoner Fettberg im Jahr 2017. Den trugen Arbeiter über Wochen mühsam ab und er wurde schließlich zu 10 000 Litern Biodiesel verarbeitet. „Er mag ein Monster sein, aber der Whitechapel-Fettberg verdient eine zweite Chance“, scherzte damals der Verantwortliche für Abwassersysteme bei Thames Water, Alex Saunders.
Ein kleiner Teil des Fettbergs fand 2018 übrigens ein neues Zuhause im Londoner Stadtmuseum. Museumsdirektorin Sharon Ament erklärte, sie hoffe, der Fettberg könne „Fragen aufwerfen darüber, wie wir heute leben und unsere Besucher inspirieren, Lösungen für die Probleme wachsender Metropolen zu finden“. Nebenbei war der ausgestellte Fettberg aber wohl auch ein Mahnmal dafür, was in die Toilette gehört – und was nicht.