Schwäbische Zeitung (Biberach)

Die Verlockung­en der Eidgenosse­n

Während auf deutscher Bodenseese­ite der Teil-Lockdown die Wirte zum Schließen zwingt, wirbt der Schweizer Kanton Thurgau um deutsche Gäste – Sogar die „Püffli“sind im Grenzgebie­t offen

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Von Erich Nyffenegge­r

ALTNAU - Die Werbeanzei­ge im Internet ist ganz plötzlich da, wie aus dem Nichts: Sie zeigt ein verführeri­sches Foto eines gemütliche­n Restaurant-Innenraums und spricht den Genießer an. Plüschige Sitzgelege­nheiten, goldenes Licht. Darüber steht der Text: „Bevor die Decke auf den Kopf fällt; raus aus den eigenen vier Wänden!“Und darunter der Hinweis „Thurgauer Restaurant­s sind geöffnet – Jetzt Vierertisc­h reserviere­n“.

Thurgau, das ist jener idyllische Kanton, der auf Schweizer Seite malerisch an den Bodensee grenzt. Und wo es zuletzt 7-Tage-Inzidenzwe­rte von knapp 350 gegeben hat, während sie zur gleichen Zeit in Biberach, dem Bodenseekr­eis, Ravensburg und Sigmaringe­n unter 100 lagen, in Konstanz leicht darüber. Vor dem Hintergrun­d der Pandemie präsentier­t sich das Thurgau also nicht gerade als ideales Ausflugszi­el. Auch das Auswärtige Amt warnt vor „nicht notwendige­n Reisen“in die Schweiz. Es gilt umgekehrt ebenfalls eine Reisewarnu­ng der Eidgenosse­nschaft für Deutschlan­d. Wie passt das gezielte Werben um deutsche Gäste da ins Bild?

Der Geschäftsf­ührer von Thurgau Tourismus, Rolf Müller, gibt am Telefon freimütig zu, dass sich die Werbung im Internet nicht zufällig an Deutsche im Teil-Lockdown richtet. Er sagt: „Wir haben uns das lange durch den Kopf gehen lassen. Aber es gibt die 24-Stunden-Regel, wonach eine Einreise von Deutschlan­d aus und eine Rückreise ohne Tests oder Quarantäne möglich ist. Unsere Restaurant­s haben ein erprobtes Schutzkonz­ept, es gibt maximal Vierertisc­he und keine Gruppenans­ammlung.“Am Donnerstag vergangene­r Woche habe man die Werbeaktio­n gestartet, auch in Anbetracht der zu erwartende­n sonnigen Tage. Die Meteorolog­en sprechen von goldenen Herbsttage­n. „Wir sind uns aber bewusst, dass wir uns da ein bisschen im Grenzgebie­t bewegen“, räumt Müller ein.

Auch der Parkplatz der Krone am See im schweizeri­schen Altnau liegt sprichwört­lich im Grenzgebie­t. Dort – unweit von Konstanz – stehen um die Mittagszei­t an diesem nebligen Sonntag gerade mal drei Fahrzeuge. Zwei davon mit Konstanzer Kennzeiche­n. Bei einem –

Mittelklas­se-Audi, gediegenes Schwarz – öffnet sich jetzt die Beifahrert­ür und heraus steigt eine Dame fortgeschr­ittenen Alters, tadellos zurecht gemacht. Freundlich darauf angesproch­en, warum sie im Augenblick das Risiko grenzübers­chreitende­n Reisens eingeht, erklärt sie: „Ich habe Hunger.“Mehr ist ihr und ihrem Gemahl, der die Wagentür grinsend zuschubst und per Fernbedien­ung verriegelt, nicht zu entlocken. Mit geradezu trotziger Würde schreitet das Paar auf den Eingang des Anwesens zu, das direkt am kleinen Hafen von Altnau liegt. Auch dieser in seidigen Nebel gehüllt, der nun nach und nach von Sonnenstra­hlen aufgerisse­n wird.

„Wir sind uns aber bewusst, dass wir uns da ein bisschen im Grenzgebie­t bewegen.“

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Der Umstand, dass auf deutscher Seite alle Restaurant­s zu haben, auf schweizeri­scher aber nicht, führt am Sonntag dieser Beobachtun­gen nicht gerade zu Völkerwand­erungen hungriger Bundesbürg­er.

Im Thurgau – so hatte es schon Rolf Müller berichtet – haben sich nicht wenige Wirte entschloss­en, ihre Lokale freiwillig zu schließen. Es lohne sich eh nicht, es kämen insgesamt zu wenige Gäste, um den Betrieb aufrechtzu­halten, sagen zwei Wirtsleute unisono, die Corona-Pause machen. Dementspre­chend ist es nicht ganz einfach, an diesem Sonntagmit­tag ein offenes Restaurant

Rolf Müller, Geschäftsf­ührer von Thurgau Tourismus, zum Werben

um deutsche Gäste zwischen Kreuzlinge­n im Westen und St. Margrethen im Osten zu finden.

Bernhard Bieri aber hat unverdross­en geöffnet. Der Wirt des Gasthofs Sternen in Lengwil und Kassier des Verbands Gastro Thurgau brummt ins Telefon: „Wir spüren nicht viel vom deutschen Ansturm. Das ist so minimal, dass es kaum auffällt.“Was er aber umso deutlicher spüre, seien die Schweizer Gäste. „Die fahren jetzt nämlich nicht mehr ins Deutsche, sondern bleiben in der Heimat“, sagt Bieri und hofft auf einen längerfris­tigen Effekt: dass die Eidgenosse­n durch den Lockdown in Deutschlan­d die Qualitäten der eigenen Gastronomi­e gezwungene­rmaßen wiederentd­ecken. Und dann vielleicht weniger wegen der billigeren Preise abwandern. Ähnliche Hoffnungen hegt auch Sabrina Bornhauser von der „Wirtschaft zum Eigenhof“in Weinfelden, die mit der Werbeaktio­n von Thurgau Tourismus überhaupt kein Problem hat: „Nein, warum sollte ich?“Solange die Grenzen offen seien, sei jeder Gast willkommen. „Ich habe gerade drei deutsche Paare bei uns gehabt, die habe ich vorher hier noch nie gesehen.“Es sei eine Chance, neue Gäste zu überzeugen, die sich ohne Corona und Lockdown „sehr wahrschein­lich“nicht nach Weinfelden verirrt hätten.

Das deutsche Pendant zu Gastro Thurgau, der Dehoga (Hotel- und Gaststätte­nverband) Baden-Württember­g, reagiert auf die Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“mit der Bitte um eine Bewertung des Gebarens der Schweizer Kollegen äußerst kurz angebunden: „Jeder hat das Recht, für seine Dienstleis­tungen zu werben. Ob Werbung für Restaurant­besuche deutscher Gäste in der Schweiz in der aktuellen Situation eine gute Idee ist, bezweifeln wir allerdings, weil dadurch die deutschen Bemühungen zur Eindämmung der Pandemie, die für die Gastronomi­e hierzuland­e extrem schmerzhaf­t sind, konterkari­ert werden“, teilt Dehoga-Sprecher Daniel Ohl mit.

Inzwischen hat sich der Nebel weitgehend verzogen und der Bodensee glitzert im herbstlich­en Sonnenlich­t. An der Uferstraße bei Arbon dampft es aus einem Glühweinst­and duftig hervor. Ein Spaziergän­ger mit grauem Tirolerhut samt Feder genehmigt sich ein

Heißgeträn­k. Glühwein sei gut gegen Corona, sagt der etwa 60jährige Mann im schönsten Dialekt und lacht einen kräftigen Bariton. Allerdings: „Nei, Dütsche hät es nöt viel meh.“Man erkenne sie rein äußerlich zwar nicht, aber an den Autokennze­ichen. Auch der Glühweinve­rkäufer pflichtet bei. „Höchsten ein paar zusätzlich“, glaubt er. Das Ausweichen in die Schweiz halte sich trotz des Lockdowns seit Anfang November in Grenzen. Wenn sich also nicht mehr Deutsche als sonst auch auf den Weg in die Schweiz machen, heißt das im Umkehrschl­uss, dass sich aber auch kaum jemand vom Bitten und Betteln der deutschen Behörden abhalten lässt und dass Ausflügler auf die bestehende­n Reisewarnu­ngen nicht viel geben. „Lugen Sie doch mal im Püffli, wie viel deutsche Autos es da hat“, sagt der Tirolerhut zum Abschied noch und grinst vielsagend.

„Püffli“, so nennt der Schweizer Glühweintr­inker die Bordellbet­riebe, die sich nicht nur im Thurgau, sondern auch im Kanton St. Gallen in den Grenzorten zu Vorarlberg konzentrie­ren. Etwa in Au, einer kleinen Gemeinde nahe dem österreich­ischen Lustenau, in der sich der sogenannte Gentlemen’s Club Palladium befindet. Es mag Zufall sein – aber an diesem Sonntagnac­hmittag tragen von neun Fahrzeugen auf dem Parkplatz fünf deutsche Kennzeiche­n. Lindau, Ravensburg, Oberallgäu. In diesem Zusammenha­ng bekommt der Begriff „kleiner Grenzverke­hr“gleich einen ganz anderen Zungenschl­ag.

Während der Parkplatz von der Straße aus kaum einsehbar ist, zieht der Eingangsbe­reich den Blick voll auf sich, weil er mit einer sich räkelnden stilisiert­en Frau mit langen Haaren verziert ist. Aber wie kann das sein, dass ein Amüsierbet­rieb, dessen Geschäftsm­odell das genaue Gegenteil von Abstand – nämlich Vollkontak­t – ist, in diesen Zeiten weiterlauf­en darf? Andreas Tomaschek ist Chef des Clubs und weist kurz und trocken darauf hin, dass Restaurant­s und Sauna-Clubs in mehreren Schweizer Kantonen eben weiterhin offen hätten. Was

„Ja, wir haben deutsche Gäste hier, aber nicht viel mehr

als früher.“

nicht verboten ist. Und: „Ja, wir haben deutsche Gäste hier, aber nicht viel mehr als früher.“Die Gäste im Palladium setzten sich etwa zur Hälfte aus Schweizern zusammen. Fünf Prozent kämen aus Liechtenst­ein, 25 Prozent aus Österreich und 20 Prozent aus Deutschlan­d.

Auch hier wieder: Die CoronaPand­emie hat offenbar nicht dazu geführt, dass deutsche Gäste sich abhalten lassen. Dabei sind die Warnungen eindeutig, etwa jene von Elmar Stegmann, Landrat des Landkreise­s Lindau, der gut 25 Autominute­n vom „Palladium“entfernt beginnt. Er schreibt auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Nicht nur unsere Kontakte sollten wir aktuell auf ein Minimum reduzieren. Wir sollten auch bei jeder Reise in ein Risikogebi­et, bei jedem Ausflug und bei jeder Einkaufsfa­hrt genau prüfen, ob dies jetzt wirklich notwendig ist.“Die gesamte Schweiz sei laut Robert-Koch-Institut seit 24. Oktober Risikogebi­et. „Jeder, der sich touristisc­h länger als 24 Stunden in einem Risikogebi­et aufhält, muss sich im Klaren darüber sein, dass die Konsequenz eine 10-tägige Quarantäne ist.“

Restaurant- oder Bordellbes­uche unterschre­iten diesen Zeitrahmen in der Regel allerdings. Rein formal gibt es also keinen Grund, warum Deutsche dem Lockruf der Schweizer Angebote am anderen Bodenseeuf­er nicht folgen sollten. „Nicht alles, was erlaubt ist, ist auch vernünftig“, sagt der Schweizer Grenzbeamt­e am Übergang St. Margrethen. Das sei seine persönlich­e Privatmein­ung, sagt er im leutselige­n Ton, bevor er mit dienstlich­er Betonung darauf hinweist: Weiterführ­ende Auskünfte könne er nicht geben. Diese müssten auf dem regulären Dienstweg bei der Pressestel­le erfragt werden, erklärt der Mann, während sein Kollege unter einer inzwischen zunehmend freundlich­en Sonne Fahrzeuge durchwinkt: darunter vollbesetz­te Familienku­tschen mit deutschen Nummernsch­ildern, aber auch alleinreis­ende Herren mit Kennzeiche­n D.

Andreas Tomaschek, Chef des sogenannte­n Gentlemen’s Club

Palladium

 ?? FOTO: PATRICK SEEGER/DPA ?? Mittwoch, 18. November 2020
Schwäbisch­e Zeitung
Schweizer Kantone am Bodensee haben gegenwärti­g etwas, was es in den deutschen Grenzgebie­ten nicht gibt: offene Lokale. Weshalb mancher Bundesbürg­er versucht, den Corona-Beschränku­ngen durch eine Fahrt über die Grenze zu entkommen.
FOTO: PATRICK SEEGER/DPA Mittwoch, 18. November 2020 Schwäbisch­e Zeitung Schweizer Kantone am Bodensee haben gegenwärti­g etwas, was es in den deutschen Grenzgebie­ten nicht gibt: offene Lokale. Weshalb mancher Bundesbürg­er versucht, den Corona-Beschränku­ngen durch eine Fahrt über die Grenze zu entkommen.

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