Schwäbische Zeitung (Biberach)
Ärger um den erlösenden Pikser
Bundesregierung und EU-Kommission müssen sich für die Corona-Impfstrategie viel Kritik anhören – Doch es soll vorangehen
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BERLIN - Seit einer Woche wird in Deutschland gegen das Coronavirus geimpft. Gesundheitsminister Jens Spahn hatte schon vor dem Start geahnt: „Es wird an der einen oder anderen Stelle auch mal ruckeln.“Der CDU-Politiker sollte recht behalten. Vielen geht das Impfen zu langsam, andere Länder kommen schneller voran. Die Älteren, die als Erste geimpft werden sollen, fragen sich, wie sie an den wichtigen Piks kommen. Die Opposition wirft der Bundesregierung zum Start des Wahljahrs vor, bei der Vorbereitung versagt zu haben. Und auch die EU-Kommission kriegt reichlich Schelte.
Wie viel Impfstoff ist da und wie viel davon wurde bereits genutzt?
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Bislang wurden 1,3 Millionen Dosen des Impfstoffes der Mainzer Firma Biontech an die Bundesländer geliefert. Damit werden zunächst Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, Menschen über 80 Jahre sowie Pflegekräfte und besonders gefährdetes Krankenhauspersonal versorgt. Am Sonntag gab das Robert-Koch-Institut bekannt, dass rund 238 800 Impfungen gemeldet seien. Wegen Meldeverzögerungen könnte die reale Zahl höher liegen. Viele Bürger und auch Experten beschweren sich, dass nicht genügend Impfstoff da sei. Aber selbst wenn man – wie manche Bundesländer es tun – die Hälfte der Dosen für die nötige zweite Impfung zurücklegt, wurde noch längst nicht die gesamte Menge aufgebraucht.
Warum laufen die Impfungen so schleppend?
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Das ist nicht ganz klar. Die Impfungen werden in den Ländern organisiert. Zuerst werden die Bewohner von Alten- und Pflegeheimen geimpft. Hier könnte es Verzögerungen geben, denn die Impfteams müssen in die Heime fahren. Das dauert. Auch die fehlende Impfbereitschaft könnte ein Problem sein. Einer RKIUmfrage von Anfang Dezember zufolge wollen sich nur 50 Prozent der Befragten impfen lassen. In Berlin musste ein Impfzentrum nach wenigen Tagen wegen der geringen Nachfrage wieder schließen.
Wie geht es beim Impfstoff weiter?
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Die nächste Charge des BiontechImpfstoffs kommt an diesem Freitag. Bis zum 1. Februar sollen weitere 2,68 Millionen Impfdosen an die Bundesländer verteilt werden. Zudem rechTermine net die Bundesregierung im Januar mit der EU-Zulassung des Impfstoffs der Firma Moderna.
Wie kommt man an einen Termin fürs Impfen?
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Wie über 80-Jährige, die nicht in Altenheimen leben, an ihre Impfung kommen, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. In BadenWürttemberg und Schleswig-Holstein etwa können sie bereits telefonisch Termine für die Impfzentren buchen, die Hotline 116 117 war Berichten zufolge zum Start aber teilweise schwer erreichbar. Den Hinweisen auf eine Überlastung der Hotline gehe man derzeit intensiv nach, sagte ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums der „Welt am Sonntag“. In Nordrhein-Westfalen können noch gar keine individuellen vereinbart werden. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz sieht Nachteile für Pflegebedürftige, die zu Hause leben. Nicht mobile Menschen seien schlichtweg vergessen worden. Unklar ist auch noch, wie das Gros der Bürger später informiert wird – ob etwa alle über 70-Jährigen von den Kommunen oder Versicherungen angeschrieben werden.
Hat die EU zu wenig Impfstoff von Biontech bestellt?
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Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides weist Kritik zurück. „Das Nadelöhr ist derzeit nicht die Zahl der Bestellungen, sondern der weltweite Engpass an Produktionskapazitäten“, erklärt sie. „Das gilt auch für Biontech.“Im November wurden bis zu 300 Millionen Dosen des BiontechImpfstoffs bestellt, die nach Bevölkerungszahl
auf die 27 EU-Staaten verteilt werden. Daneben gibt es Rahmenverträge mit fünf weiteren Herstellern. Insgesamt hat die EU Bezugsrechte für knapp zwei Milliarden Impfdosen, mehr als genug für die 450 Millionen Menschen in der EU. Das Problem: Bisher hat nur Biontech/Pfizer die EU-Zulassung. Die Vielfalt nützt also erstmal nichts.
Warum ist die EU-Kommission so vorgegangen?
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Da lange unklar war, wer im Impfstoff-Rennen die Nase vorn haben würde, wollte die Kommission das Risiko streuen. Warum zu welchem Zeitpunkt welche Mengen bei bestimmten Firmen bestellt wurden, ist aber nicht transparent – die Verträge sind geheim. Unter der Hand ist in Brüssel zu hören: Biontech und Moderna
waren für einige EU-Staaten zunächst nicht erste Wahl, wegen der neuartigen Technologie und wegen der Preise. Auch diese sind ein Geheimnis, doch gab eine belgische Staatssekretärin kürzlich auf Twitter zeitweise Einblick: So koste eine Dosis Impfstoff von Moderna rund 15 Euro, von Biontech/Pfizer zwölf Euro, von Astrazeneca nur 1,78 Euro.
Hat die EU auf die falschen Impfstoffe gesetzt?
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Der SPD-Politiker Karl Lauterbach kritisiert, dass Europa nur wenig von dem Moderna-Impfstoff gekauft hat, nämlich 160 Millionen Dosen. „Schon sehr früh war klar, dass der ModernaImpfstoff sehr stark wirkt und in Hausarztpraxen verwendet werden könnte“, sagte er der „Rheinischen Post“. Wegen der geringen Menge werde der Moderna-Impfstoff wohl keine große Rolle spielen. Mit Astrazeneca vereinbarte die EU-Kommission hingegen schon im August den Kauf von bis zu 400 Millionen Dosen und hoffte auf Lieferung vor Jahresende. Dann gab es in Tests Rückschläge. In Großbritannien hat der sogenannte Oxford-Impfstoff nun die Notfallzulassung geschafft. In der EU könnte das Mittel einige Wochen nach Moderna möglicherweise als nächstes auf den Markt kommen.
Der Charité-Virologe Christian Drosten hält es nicht für möglich, das Vorgehen bei der Bestellung von Impfstoffen rückblickend zu bewerten. „Das ist so eine komplexe Angelegenheit. Man musste den Impfstoff mit Monaten Vorlauf bestellen – und wusste zu dem Zeitpunkt gar nicht, ob der betreffende Impfstoff auch funktionieren würde“, sagte er der „Berliner Morgenpost“.
Kann die EU noch mehr von Biontech bekommen?
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Voraussichtlich ja. Man sei „in fortgeschrittenen Diskussionen“über zusätzliche Lieferungen, sagte Biontech-Chef Ugur Sahin an Neujahr. Also mehr als die bestellten 300 Millionen Dosen. Man arbeite am Ausbau der Produktionskapazitäten.
Wann wird genug Impfstoff für alle da sein?
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„Die Situation wird sich Schritt für Schritt bessern“, verspricht Gesundheitskommissarin Kyriakides. Rechnerisch reicht die von der EU bestellte Menge der drei Mittel von Biontech/Pfizer, Moderna und Astrazeneca – insgesamt 860 Millionen Dosen – für alle erwarteten Impfungen in Europa: 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung mit jeweils zwei Spritzen. Sobald alle drei die EU-Zulassung haben, dürfte der Nachschub in Schwung kommen. Dennoch wird die Impfkampagne Monate dauern, weil nur in Etappen geliefert wird.
Hätte Deutschland lieber einen Alleingang wagen sollen?
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Wäre ein Wettkampf um den Impfstoff ausgebrochen, hätte das für Zündstoff in der EU gesorgt. Deutschland hätte sich gegenüber ärmeren Staaten durchgesetzt und wäre dafür angefeindet worden. Dennoch führte das gemeinsame Vorgehen nicht an nationalen Egoismen vorbei: Frankreich intervenierte in den Verhandlungen zugunsten des französischen Herstellers Sanofi – dieser kann nun jedoch nicht liefern.