Schwäbische Zeitung (Biberach)
Der Brückenbauer ist im Amt
Joe Biden tritt mit seiner Präsidentschaft ein schweres Erbe Donald Trumps an – In seiner Rede beschwört er die Einheit der USA
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WASHINGTON - Die USA haben einen neuen Präsidenten: Joe Biden hat am Mittwoch in der Hauptstadt Washington seinen Amtseid abgelegt – und dabei erneut bewiesen, wie sehr er sich von seinem Vorgänger Donald Trump unterscheidet. Es ist der Aufruf des 78-Jährigen, der Toten der Pandemie zu gedenken, der wohl am kontrastreichsten den Unterschied zu seinem Vorgänger symbolisiert.
Mit gesenktem Haupt steht der neue Präsident im kalten Wind, der über den Parlamentshügel weht. Alle Versammelten tun es ihm nach. Die Geste allein macht schon deutlich, was sich ändert, nachdem Donald Trump, der die Gefahr der Pandemie meistens herunterspielte, das Weiße Haus verlassen hat. Mit ihm, signalisiert der weißhaarige Mann auf der Tribüne, kehrt Empathie und Ernsthaftigkeit zurück in die Machtzentrale.
Zuvor hatte Biden in seiner nur etwa 20-minütigen Rede zur Inauguration skizziert, was ihm wichtig ist. Das Schlüsselwort lautet: Einheit. Schon im Wahlkampf ist der Demokrat mit dem Versprechen angetreten, Brücken zu bauen über Gräben, die unter dem Spalter Trump noch tiefer und breiter geworden sind. „Ohne Einheit gibt es keinen Frieden, nur Verbitterung und Wut“, sagt Joseph Robinette Biden jr.
In der Geschichte der Nation habe es nur wenige Momente gegeben, in denen die Herausforderungen größer gewesen wären als heute. Um sie zu meistern, um Amerikas Seele zu heilen, bedürfe es der Einheit – einer Sache, die in einer Demokratie am flüchtigsten sei. Doch das könne gelingen, wenn man sich nur für einen Augenblick in die Schuhe des anderen hineinversetze. Politik müsse kein loderndes Feuer sein, das alles zerstöre. Die glühenden Trump-Anhänger forderte Biden auf, ihm zuzuhören. Wenn man dann immer noch anderer Meinung sei, dann sei das eben so. „So geht Demokratie. Das ist Amerika.“
Gleich zu Beginn blickt Biden zurück auf den 6. Januar, an dem ein rechter Mob das Kapitol stürmte. Er spricht von der Demokratie, die letztlich die Oberhand behalten habe. Und hatte er noch vor Wochen, unter dem Eindruck der Pandemiezahlen, von einem dunklen Winter gesprochen, so klingt es diesmal um eine Nuance optimistischer. „Ein Winter der Gefahr und der Möglichkeiten“, sagt er.
Um 11.49 Uhr Ortszeit, elf Minuten vor dem Zeitpunkt des Machtübergangs, wie ihn die Verfassung festlegt, hatte er seine rechte Hand zum Schwur erhoben und die linke auf eine Bibel gelegt, die sich seit 1893 im Besitz seiner irisch-amerikanischen Familie befindet und deren Einband ein Keltenkreuz ziert. Lady Gaga, die bereits den Wahlkampfendspurt an Bidens Seite bestritt, singt die Nationalhymne. Nach der Ansprache des neuen Staatschefs stimmt der Countrysänger Garth Brooks „Amazing Grace“an. Am Ritual auf der Bühne hat sich nichts geändert im Vergleich zu früheren Jahren, auch wenn es nicht an Ratgebern fehlte, die Biden aus Sorge um seine Sicherheit nahelegten, auf den Auftritt im Freien zu verzichten.
Im Januar 1945, im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs, wurde der kranke Franklin Delano Roosevelt im Weißen Haus vereidigt, und es gab Historiker, die Biden empfahlen, sich daran ein Beispiel zu nehmen. So weit ist es nicht gekommen, doch ansonsten ist es eine Zeremonie, die auf alles verzichtet, was den Inauguration Day in jüngerer Vergangenheit immer auch zu einem Volksfest werden ließ.
Auf der National Mall, der von Museen und Denkmälern gesäumten Grünfläche vor dem Kapitol, gibt es keine Menschenmassen, die dem neuen Präsidenten zujubeln. Auf der Pennsylvania Avenue gibt es keine Parade, über der sonst immer, alle vier Jahre, ein Hauch von Karneval lag. Lange vor dem 20. Januar war klar, dass die große Party pandemiebedingt ausfallen würde. Doch erst die Angst, dass gewaltbereite Anhänger Trumps auch Bidens Vereidigung stören könnten, hat die Feierlichkeiten auf das absolute Minimum reduziert. Und sie hat das Zentrum Washingtons in ein Heerlager verwandelt.
Wer an diesem Mittwoch versucht, sich dem Kapitol von Norden her zu nähern, kommt nicht mal bis zur Union Station, dem Bahnhof der Metropole, knapp einen Kilometer vom Parlamentsgebäude entfernt. Überall Metallzäune, Betonbarrieren, Checkpoints, an denen Bewaffnete
stehen. Nur wer eine fälschungssichere Einladung für die Zeremonie vorzeigen kann, wird nach gründlicher Kontrolle durchgelassen. Das gesperrte Areal, von den Behörden Green Zone genannt, umfasst praktisch die gesamte Innenstadt.
Green Zone – den Begriff kannten Amerikaner bisher nur aus Bagdad. So hieß, nach dem Einmarsch 2003, das abgeriegelte Viertel rund um Regierungsgebäude und US-Botschaft. Die Nationalgardisten, die den Sperrbezirk Washingtons bewachen, hat man nochmals überprüft, nachdem Gerüchte über potenzielle Aufrührer in ihren Reihen die Runde gemacht hatten. Zwölf wurden vom Dienst suspendiert.
Auf der Tribüne hinter Biden sitzen, Stoffmasken vor Mund und Nase, etwa zweihundert geladene Gäste. Alle noch lebenden Präsidenten sind versammelt, abgesehen vom hochbetagten Jimmy Carter – und von Trump. Er fliegt schon am Morgen an Bord des Präsidentenhubschraubers zur Luftwaffenbasis Andrews, bevor ihn die Air Force One nach Palm Beach in Florida bringt, wo er vor Jahren den Strandclub Mar-a-Lago erwarb. Auf der Rollbahn des Stützpunkts stehen seine Kinder und deren Partner, hinter ihnen Mark Meadows, sein letzter Stabschef im Weißen Haus. Es ist eine auffallend kleine Runde. Mike Pence, sein loyaler, aber dennoch zum Schluss angefeindeter Stellvertreter, glänzt durch Abwesenheit, während er später bei Biden auf der Tribüne sitzt. Logistische Gründe, heißt es offiziell, was freilich kein neutraler Beobachter glaubt.
Trump hat Biden nie zum Sieg gratuliert. Als er nun über ihn redet, nennt er ihn nicht beim Namen. Zwar wünsche er Bidens Regierung Glück und Erfolg, wie er sagt. Allerdings verbindet er das mit einer gehörigen, für ihn so typischen Prise Selbstlob. Bidens Ausgangsposition könnte dank seiner, Trumps, Vorarbeit kaum besser sein. „Ich denke, sie werden große Erfolge haben. Sie haben das Fundament, um etwas wirklich Spektakuläres zu tun.“Schließlich, ehe er zu Klängen des Siebziger-JahreSongs YMCA von den Village People ins Flugzeug steigt, äußert Trump das vage Versprechen eines Comebacks – in den Ohren seiner Gegner eher eine Drohung. „Wir werden in irgendeiner Form zurückkehren“, sagt Trump. „Habt ein gutes Leben. Wir sehen uns bald.“
Seit 1869, als Andrew Johnson der Inauguration des Bürgerkriegsgenerals Ulysses Grant fernblieb, ist er der erste scheidende Präsident, der die feierliche Amtseinführung seines Nachfolgers boykottiert. Tags zuvor hatte er, sich zum letzten Mal seiner Macht bedienend, 143 Begnadigungen ausgesprochen. Der prominenteste Fall: Der Rechtspopulist Steve Bannon, einst Chefstratege im Weißen Haus, muss sich vor Gericht nicht mehr dafür verantworten, dass er um Spenden für den Bau eines Mauerabschnitts an der Grenze zu Mexiko trommelte und dann, als das Geld floss, fast eine Million Dollar abzweigte, um seinen opulenten Lebensstil zu finanzieren.