Schwäbische Zeitung (Biberach)
Die Genderbeauftragte
WEINGARTEN - Homeschooling, Kontaktsperren, Arbeiten von daheim: Was bedeutet das für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen? Dazu hat Marlene Haupt, Professorin für Sozialpolitik und Sozialwirtschaft der Hochschule Ravensburg-Weingarten von März bis Dezember 2020 geforscht. Unter dem Titel „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück?“sind die Ergebnisse bei der FriedrichEbert-Stiftung erschienen. Im Interview mit Oliver Linsenmaier erklärt Haupt, warum diese Rückkehr in alte Rollenmuster fast schon unausweichlich war und was sich in Zukunft ändern muss. Dazu hatte sie das Vorgehen verschiedener Länder in der Krise untersucht.
Fallen wir durch die Pandemie in traditionelle Rollenmuster zurück?
Ja, das würde ich sagen. Das ist auch der Grund, warum wir die Studie „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück?“genannt haben. Wir haben uns in den Jahren vor der Pandemie familienpolitisch an die skandinavischen Vorbilder angenähert. Mit der Pandemie kehren wir ganz stark in die alten Rollenmuster zurück. Die Frau bleibt zu Hause und reduziert die Arbeitszeit, damit sie nebenher noch Homeschooling und Kinderbetreuung machen kann. Und für den Mann ändert sich relativ wenig.
Woran macht sich das bemerkbar?
Wir sehen, dass beispielsweise Kurzarbeitergeld vor allen Dingen für Männer aufgestockt wird, für Frauen wesentlich weniger. Da außerdem viele Frauen in Minijobs tätig sind, fallen sie nicht unter die Kurzarbeiterregelung. Während viele Jobs dank der sozialpolitischen Instrumente, wie dem Kurzarbeitergeld, erhalten geblieben sind, sind viele Minijobs – zwölf Prozent im Juni 2020 gegenüber dem Vorjahr – ganz massiv zurückgegangen. Und in den Minijobs arbeiten überwiegend Frauen, wie beispielsweise in der Gastronomie. Frauen sind sehr stark von der Krise betroffen. Daher kehren viele Familien wieder zum Ein-Verdiener-Modell zurück. Während der Mann arbeiten geht, bleibt die Frau zu Hause. Die Krise könnte uns um viele Jahrzehnte zurückwerfen.
Gefühlt sind wir gesellschaftlich aber schon weiter. Warum stecken wieder viele Frauen zurück?
Das haben wir uns auch gefragt. Vom Bauchgefühl stimme ich Ihnen komplett zu. Doch trotz aller Fortschritte stehen Frauen mit Blick auf das Einkommen meist schlechter da. Und dann spielt der ökonomische Faktor eine Rolle. Familien bleibt oft gar nichts anderes übrig als in traditionelle Rollen zurückzukehren. Bei der Frage, wer nun zu Hause bleibt, ist es fast zwangsläufig derjenige, der weniger verdient. Und das ist eben immer noch die Frau. Da spielen beispielsweise Steueranreize, die wir vor der Pandemie schon hatten, eine Rolle.
War unser System auf so eine Krise nicht vorbereitet?
Auch da lohnt sich der Blick nach Skandinavien. Da sind die Löhne zwischen Mann und Frau schon viel ähnlicher und mit einer ähnlichen Form des Kurzarbeitergeldes werden dort 90 Prozent des Gehaltes ausgeglichen. Dann reduzieren oft nicht die Frauen, sondern diejenigen, die nach so einer Krise, wieder leichter in die Vollzeit zurückkehren. Das sind oft Männer. Daher ist es schon eine Systemfrage.
Was haben die Skandinavier besser gemacht?
In Skandinavien war klar, dass die Frauen, die in vielen Bereichen im Gesundheitswesen arbeiten, nicht noch zusätzlich auf die Kinder aufpassen können. Daher wollte man ihnen die Betreuungsmöglichkeiten nicht nehmen. Sonst wäre das Sozialund Gesundheitswesen zusammengebrochen. Das hat man in Deutschland unterschätzt. Also sind viele Frauen zu Hause geblieben und die Einrichtungen haben dadurch einen viel größeren Mangel an Arbeitskräften bekommen. Und dann sind wir ganz schnell zurückgerudert und haben die Notbetreuung aufgemacht. Und das sehe ich sehr kritisch. Wir sind nach der Systemrelevanz der Eltern gegangen und nicht nach der Systemrelevanz der Kinder. In Skandinavien hat man den Ansatz, dass jedes Kind gleich viel wert ist. Und das was wir hier in Deutschland sehen, wird gesamtgesellschaftlich noch sehr lange nachhallen. Wir sehen eine ganz massive Bildungsungerechtigkeit und das wird sich später natürlich auch beim Einkommen der jetzigen Kinder bemerkbar machen. Das ifo-Institut in München hat berechnet, dass ein Lernausfall von einem Drittel eines Schuljahres über das gesamte Berufsleben gerechnet im Durchschnitt mit rund drei bis vier Prozent geringerem Erwerbseinkommen einhergeht.
Was macht dieser „Rückfall“mit den Familien? Entsteht da nicht ein enormes Ungleichgewicht?
Ja, definitiv. Das kann man als Machtverhältnisse innerhalb einer Paarbeziehung beschreiben. Derjenige, der das Einkommen erzielt, hat an vielen Stellen die Macht. Und wenn die Frauen nach der Krise dann nicht wieder aufstocken können, verfestigt sich diese Situation. Und dann haben sie die schwächere Verhandlungsposition, wenn es um Entscheidungen geht.
Was bedeutet das perspektivisch?
Die ohnehin schon hohe Bildungsungerechtigkeit wird sich noch weiter verstärken und uns Jahrzehnte begleiten. Manche Kinder haben fast ein Schuljahr verloren. Das wird kei(Foto: RWU) ist Professorin für Sozialwirtschaft und Sozialpolitik an der Hochschule Ravensburg-Weingarten (RWU). Sie hat mit anderen „Corona in Deutschland aus der Genderperspektive“untersucht. (sz)
Und mit Blick auf die Benachteiligung der Frauen?
Wir müssen uns fragen, wie wir weitermachen wollen. Sollen sich die Frauen an die männlichen Lebenswirklichkeiten annähern oder nähern sich vielleicht Männer an die Frauenwelten an. So dauern in Skandinavien Besprechungen beispielsweise nicht länger als 16 Uhr, sodass die Väter die Kinder von der Schule oder aus dem Kindergarten abholen können. Und das sind auch Punkte, die man in Deutschland noch mal stärker forcieren muss. Also Lebensund Arbeitswelt in eine andere Richtung entwickeln und nicht nur Frauen in die Vollzeitbeschäftigung plus Kinderbetreuung zu bekommen. Und Männer noch stärker an Sorgearbeit teilnehmen lassen. Die Bereitschaft bei jungen Familien ist durchaus da, das partnerschaftlich zu organisieren. Nur die Rahmenbedingungen machen das fast unmöglich. Wenn es nicht schlimm ist, wenn man um 16 Uhr aus dem Büro geht, sind Männer sicher bereit, sich auf die Lebenswirklichkeit von Frauen einzulassen.