Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Mutationen können auch weniger krank machen“
Thomas Mertens über neue Varianten des Coronavirus
RAVENSBURG - Es gibt immer neue Berichte über Mutationen des Coronavirus. Warum das nicht zwangsläufig Grund zur Sorge sein muss, erklärt Virologe Professor Thomas Mertens im Gespräch mit Daniel Hadrys.
Im Moment ist viel über Mutationen des Virus zu lesen. Was muss man darüber wissen?
Viren vermehren sich alle völlig anders als alle lebenden Zellen, das gilt vom Bakterium bis zu den Menschen. Alle Zellen vermehren sich durch Zweiteilung. Viele Viren bringen nur ihren Bauplan, der in ihrem Genom festgelegt ist, in eine Wirtszelle und zwingen die Zelle dazu, neue Viren zu produzieren, und zwar meist sehr viele in kurzer Zeit (100 bis 1000 pro Zelle in Stunden bis wenigen Tagen). Bei dieser Virusvermehrung muss das Virusgenom in großen Mengen vervielfältigt werden, damit jedes Nachkommen-Virus auch ein Genom erhalten kann. Bei der Vervielfältigung passieren Fehler, besonders häufig bei Viren mit einem RNAGenom. Das Genom von SarsCoV-2 besteht aus ungefähr 30 000 einzelnen Bausteinen (sogenannten Nukleotiden). Wenn bei der Vervielfältigung des Genoms ein NukleotidBaustein „versehentlich“falsch eingebaut (ausgetauscht) wird, ist das bereits eine Punktmutation. Es kann auch zu kleinen Verlusten von Nukleotiden kommen, was als Deletion bezeichnet wird. Solche Mutationen kommen relativ häufig ungerichtet vor und sind somit „normal“. Mutationen sind auch durchaus nicht immer schlecht aus Sicht des Menschen. So sind zum Beispiel die Polioviren im früheren Schluckimpfstoff nichts anderes als Mutanten, welche die Fähigkeit verloren haben, Menschen krank zu machen. Wie bereits früher gesagt, können sich mutierte Viren dann durchsetzen, wenn die jeweilige Mutation einen „Selektionsvorteil“für das Virus bedeutet. Seinen Wirt umzubringen bedeutet keinen Selektionsvorteil, da Sars-CoV-2 sich nur vermehren und übertragen werden „will“. Eine Sars-CoV-2 Mutante ist dann medizinisch relevant, wenn diese sich besser vermehren und leichter infizieren kann. Weiterhin müssen wir dringend auf Mutanten achten, die sich der virologischen Diagnostik entziehen können, weil die verwendete PCR diese nicht mehr so sicher nachweisen kann. Natürlich sind auch Mutanten wichtig, die sich der einmal erworbenen Immunität (durch natürliche Infektion oder Impfung) entziehen können und damit einen Impfstoff unwirksam machen würden. Für die beiden letztgenannten Möglichkeiten gibt es bei den vielen bisherigen Mutanten von Sars-CoV-2 bislang keinen experimentellen Hinweis. Die Mutante aus Brasilien wird derzeit noch untersucht. Aber Mutation eröffnet uns auch die Hoffnung, dass irgendwann Mutanten selektiert werden könnten, die uns Menschen weniger krank machen.
Trotz aller Mahnungen rechnet RKI-Chef Lothar Wieler damit, dass wir die Situation bis Ende des Jahres unter Kontrolle haben. Teilen Sie seine Einschätzung?
Dies hängt im Augenblick im Wesentlichen vom Erfolg der angelaufenen Impfkampagne ab und dabei von der Bereitschaft der Menschen, sich auch impfen zu lassen. Ich ermahne alle, sich in vertrauenswürdigen Informationsquellen (zum Beispiel RKI.de) gut zu informieren und nicht auf Fake News hereinzufallen. Nach guter Information kann man leichter eine rationale Entscheidung für die Impfung fällen. Wenn alles jetzt gut läuft, kann Herr Wieler recht bekommen.
Nachgefragt Es häufen sich Berichte von Corona-Ausbrüchen in Altenheimen, in denen Menschen geimpft worden sind. Welche Erklärungen gibt es dafür?
Im ersten Bericht des Paul-EhrlichInstituts (PEI) werden alle bisher gemeldeten unerwünschten Reaktionen für die ersten 613 000 Impfungen genau berichtet. Die Berichte über Todesfälle sind sehr betrüblich, sind aber nicht alarmierend. In praktisch allen sieben Fällen handelt es sich um schwerkranke alte Menschen, bei denen vereinzelt auch noch akute Ereignisse kurz vor der Impfung hinzukamen. Bei dieser Gruppe von Menschen sind Todesfälle auch unabhängig von der Impfung leider möglich. Die Frage, wie „gesund“jemand sein sollte, wenn er geimpft wird, muss bei uns, wie auch in Skandinavien geschehen, diskutiert werden. Es handelt sich allerdings um eine gelegentlich schwierige Frage der medizinischen und ethischen Abwägung von Nutzen im Einzelfall. Der erste Bericht des PEI vom 10. Januar hat nichts Unerwartetes ergeben und die Rate und Art der gemeldeten unerwünschten Reaktionen entsprach etwa den Ergebnissen aus der Zulassungsstudie. Allergien und „Pseudoallergien“traten mit einer Häufigkeit von 1 pro 100 000 Impfungen auf, was genau dem international ermittelten Wert entspricht.