Schwäbische Zeitung (Biberach)
Fernunterricht für Feinschmecker
Samstag, 23. Januar 2021 Nicht nur für Arbeit und Schule – Auch zum gemeinsamen Kochen können Videokonferenzen Menschen zusammenbringen
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ast 100 Leute auf einem Haufen – und das während des Lockdowns. Obervirologe Christian Drosten stünden die neckischen Locken zu Berge. Aber kein Grund zur Aufregung: Die Zusammenkunft in der Küche von Familie Haug in Lindau am Bodensee ist rein virtueller Natur. Zeitweise sind es 35 zugeschaltete Haushalte. Aufgeteilt in jede Menge kleiner Fenster füllen sie den Bildschirm. Beim einen knarzt die Eiche rustikal aus der altdeutschen Wohnküche. Zwei Fenster weiter stammt das Küchenglück aus dem Sortiment von Ikea. Und wieder ein paar Fensterchen daneben begleitet der Charme von orange-rotem Resopal die gemeinsame Speisezubereitung.
Aber was soll das Ganze? Was steckt hinter dieser Versammlung am virtuellen Herdfeuer? „Anders wär’s uns natürlich auch lieber. Also direkt und persönlich“, erklärt Winzer Claudius Haug, der reichlich Erfahrung aus besseren Zeiten mit Veranstaltungen hat, in deren Rahmen die Verkostung seiner Weine mit dem Genuss von Käse oder anderen Spezialitäten kombiniert wird. Schon im Herbst 2020 haben sich Haug und seine Frau Janine dann erstmals aufs Internet als Plattform verlegt. Sich mit Meino Wissinger einen befreundeten Koch mit ins Boot zu holen, war da nur ein konsequenter Schritt.
Das Konzept geht so: Im Vorfeld der Veranstaltung kaufen die Teilnehmer ein Paket für 75 Euro, das Wein und das Wichtigste fürs Menü enthält. Im konkreten Fall sind in dem Karton, den Claudius Haug rechtzeitig verschickt, vier Flaschen aus den Kellern des Weinguts und drei große Einmachgläser mit gekochtem Kalbfleisch, Fischfond und Schokoladenkuchen. Mit dabei ist eine Einkaufsliste, um das Menü von Meino Wissinger exakt so nachkochen zu können, wie es der
Meister während der vergnüglichen Videokonferenz live vormacht. So eine Art TV-Kochsendung, in der die Zuschauer interagieren können und für kurze Zeit auch selbst im Mittelpunkt stehen.
Schlag 18 Uhr geht es los – der Start ist deshalb so früh gewählt, damit es für die potenziell einzelne erlaubte Person aus einem fremden Haushalt möglich ist, noch vor der Ausgangssperre ins eigene Bett zu kommen. Wobei so gut wie alle Teilnehmer den besonderen Vorteil der virtuellen Zusammenkunft daheim genießen: nach Essen und Wein kein Stück mehr fahren zu müssen. Es beginnt mit einem leichten Secco, der rosafarben im Glase perlt. Claudius Haug erklärt etwas zu dem Tropfen, mit dem sich die annähernd 100 Teilnehmer über die Kamera ihrer Computer, Smartphones oder Tablets zuprosten. Meino Wissinger steht ein wenig abseits hinterm Herd und scharrt schon mit den Hufen.
Über die Konferenzplattform „Bluejeans“spielt Haug im dezenten Selbstmarketing Bilder vom Weingut ein. Etwa ein Foto, das ihn mit bloßen Füßen beim Stapfen durch die geernteten Trauben zeigt. Ein Paar, zugeschaltet aus dem Münsterland, lobt den Schaumwein mit Ohs und Ahs, bevor der Koch am Herd richtig aufdreht – und das ist durchaus wörtlich gemeint. Der erste Gang ist eine Bodensee-Fischsuppe mit Lachstatar. „Fangen wir mal mit der Butter im Topf an“, verkündet Wissinger und haut ein ordentliches Stück in die Sauteuse. Mehl dazu, und fast ist sie schon fertig, die klassische Mehlschwitze. Währenddessen Gurke würfeln, Räucherlachs ebenso – ach, und wo ist denn die Zitrone? Es dauert nicht lange, da rufen die ersten Küchen-Eleven aus dem virtuellen Off, dass es ihnen zu schnell geht. Die aufkommende Hektik dämpft Claudius Haug mit ruhiger Stimme ab, als er den nächsten Wein, einen
Müller-Thurgau, öffnet. Zur allgemeinen Beruhigung bei hohem Kochtempo prosten sich die Menschen einmal mehr zu, während Wissinger seine professionelle Hurtigkeit in den Griff zu kriegen versucht.
Schon während der ersten Speise offenbaren sich die durchaus charmanten Ecken und Kanten dieser digitalen Veranstaltung. Da gibt es einerseits die penibel Vorbereiteten, die alles fürs Rezept Notwendige bereits vor Beginn aufs Gramm genau abgewogen haben und nun locker mithalten können. Und dann sind da noch zum Beispiel die Kölner, die zumeist ein bis zwei Schritte hinterherhinken – und bei den Zutaten höchste Präzision vom Koch erwarten. Auf der Einkaufsliste steht Sahne – und Köln fragt in entwaffnender Unwissenheit: „Aber welche?“Saure Sahne? Crème Double? Schmand? Schlagsahne? Meino Wissinger sagt: „Gut zu wissen fürs nächste Mal. Dann schreib ich gleich Schlagsahne drauf!“
Über die vielen Kameras wird spätestens beim Anrichten deutlich, dass, auch wenn 35 Leute das Gleiche kochen, am Ende noch lange nicht dasselbe herauskommt. Glücklicherweise sorgt der trockene
● Weiße für zunehmend gelöste Stimmung, in der es dann auch nicht mehr so wichtig ist, ob die Sahne nun eine saure ist oder Schlag hat. „So, jetzt müsste ja jeder mit der Suppe so weit sein“, sagt Claudius Haug, als das fertige Ergebnis in bunten Anrichte-Variationen von den kleinen Bildschirmfenstern glänzt. Zum Essen schweigen Winzer und Koch. Jeder Teilnehmer hat übrigens die Herrschaft über Mikrofon und Kamera und kann auf diese Weise bestimmen, ob nur er selbst seine spontanen Bemerkungen hört oder die ganze Gruppe. Während des Löffelns der Suppe kommt so eine Art Restaurant-Gefühl auf, weil man mit einem gewissen Abstand fremden Menschen beim Essen zusieht – nicht ganz so wie im echten Gasthaus, aber doch mit einem schönen Hauch dieses schon verloren geglaubten Gefühls.
Aber Nostalgie ist die Sache von Meino Wissinger nicht, drum ruft er rasch zur Zubereitung des Hauptgangs zurück an seinen Herd, der auch eine Kamera für die Perspektive von oben besitzt, sodass sich die interaktiven Zuschauer das Timing abschauen können. Haug öffnet mit einer kühlen Flasche
Souvignier Gris einen nicht alltäglichen Weißwein mit angenehmer Mineralik und frecher Frucht. Erklärt ruhig, hält das Glas in die Höhe, guckt in den Wein. Wissinger wirbelt derweil wieder. Das zuvor in seinem Restaurant „Wissingers“in Lindau vorgekochte und eingemachte Kalbfleisch kommt in den Topf. Zwiebel würfeln, Zwiebeln bräunen – mit Wein ablöschen.
„Und jetzt?“, ruft’s aus einer nördlichen Ecke Deutschlands. „Den Reis!“, gibt Wissinger zurück und beginnt das Risotto zu rühren, während in 35 Küchen im Land ähnliche Düfte vom Herd aufsteigen.
Der Koch erzählt während der Zubereitung des Champignon-Gemüses ein wenig über regionalen Einkauf. Er beantwortet Fragen zu den eingemachten Kalblfeischwürfeln, die im Verlauf des Abends von den Teilnehmern zu einem klassischen Frikassee veredelt werden. Er sagt etwas zu seinem Werdegang, der ihn vor seiner Selbstständigkeit im eigenen Restaurant auch schon in Betriebe mit Stern geführt hat. Claudius Haug rät dazu, schon mal den Rotwein zu entkorken, der später für das Dessert gebraucht wird.
Das virtuelle Format, wie es
Koch und Winzer für ihre Veranstaltung gewählt haben, ist für die Kommunikation der Teilnehmer untereinander weniger gut geeignet. Sich unmittelbar mit anderen Genießern zusammenzuschließen und nebenher etwas zu unterhalten, ist damit nicht möglich. Andererseits kann sich jeder Teilnehmer quasi per Zuruf in die Küchen der anderen kurz einblenden, wenn er eine Frage stellt oder einen Kommentar abgibt. Das System blendet den Sprecher dann kurz für alle ein. Familie Klee aus Lindau stört sich aber überhaupt nicht daran, im Gegenteil – Florian Klee hat sich und seine Frau die meiste Zeit ausgeblendet und genießt von der eigenen Küche aus den lebendigen Trubel, ohne selbst aktiver Teil davon sein zu müssen. Beim Anrichten des Hauptgangs ist wieder allgemeines Ohh! und Ahh! zu hören, als die Teilnehmer ihre Kameras auf die eigenen Teller richten – und die optisch unterschiedlichen Versuche zum Abgleich der eigenen Künste dienen. Auch hier ist beim Essen selbst wieder Sendepause bei den Moderatoren Wissinger und Haug. Noch vor dem Dessert lässt sich, während der Rotwein atmet, ein Fazit ziehen. Nämlich dass ein Kochkurs mit angeschlossener Weindegustation persönlich und vor Ort natürlich der Goldstandard ist und bleibt. Der von Haug und Wissinger gebotene Distanzunterricht für Feinschmecker aber durchaus ein warmes Gefühl auslöst, trotz der unseligen Pandemie Teil von etwas Gemeinsamem in großer Runde zu sein.
Mit dem kulinarischen Paukenschlag eines in Butter gebratenen Schokokuchens samt heißen Kirschen und Schlagsahne geht der Abend nach gut zwei Stunden auf die Zielgerade. Jetzt kommt auch der samtige Rotwein zum Einsatz und setzt einen körperreichen Schlusspunkt. Vielstimmig loben die Teilnehmer Meino Wissingers über jeden Zweifel erhabene Vorprodukte und die souveräne Finalisierung im Fokus der Videokameras. Sie zeigen einen Küchenchef, der Freude an seinem Beruf hat und dabei sehr genau weiß, was er tut.
Und was wird von dieser neuen Art der Gemeinschaftsbildung nach der Pandemie übrig bleiben?
Bleibt’s auch in normalen Zeiten virtuell? „Eher nicht“, sagt Claudius Haug, der die Sehnsucht nach Kontakt und die Überwindung der Distanz überall spürt. Dennoch: Ein weiterer Termin für ein Koch- und Degustations-Event steht schon fest: Am Vorabend des Valentinstags am 13. Februar heißt es noch mal „Kochen mit Meino“. Aus der Distanz, aber doch irgendwie ganz nah.