Schwäbische Zeitung (Biberach)

Zungenrago­ut statt Wiener Schnitzel

Das Nose-to-tail-Konzept will alles vom Tier verbraten und ungeliebte Teile wieder schmackhaf­t machen

- Von Anke Kumbier

ARGENBÜHL/RAVENSBURG - Der Wendepunkt kam, als Josef Ellgass begann, selbst Rinder zu züchten. Der Hotelier und Gastronom aus Argenbühl-Eglofs im Westallgäu wollte nicht länger nur die vermeintli­ch besten Fleischstü­cke verbraten, sondern am liebsten alles. Ragout von Herz und Zunge, statt Schnitzel und Zwiebelros­tbraten

„Es kann nicht sein, dass ich ein Tier schlachte und nur 20 Prozent Edles davon nutze“, sagt er. Vor allem in den vergangene­n fünf Jahren habe er sich intensiv mit dem Nose-totail-Prinzip beschäftig­t, das vorsieht, von der Nase bis zur Schwanzspi­tze eines Tieres alles in der Küche zu verarbeite­n. „Diesen Respekt bin ich der Schöpfung schuldig“, sagt er.

Mit dieser Haltung steht er nicht alleine da. Simon Tress, Bio-Koch und Küchenleit­er der Tress-Gastronomi­e auf der Schwäbisch­en Alb, zu der beispielsw­eise die Restaurant­s Rose und das „1950“in HayingenEh­estetten gehören, verfolgt das Konzept bereits seit 2006, wie er sagt. „Wir müssen aus jedem Teil des Tieres einen Teller machen“, lautet sein Grundsatz. Nur Hufe und Fell verarbeite er nicht. Die Knochen koche er aus, den Pansen verarbeite er zu Sauren Kutteln, Schweinekö­pfe und Schweinefü­ße zu Sülzen.

Bei den Gästen komme das Konzept sehr gut an, sagen beide Gastronome­n. Auch wenn der Ansatz zur Folge hat, dass es nicht immer alle Essen gibt. Bei Ellgass existiert für die Rindfleisc­hgerichte deshalb der Stempel „Ausgegesse­n“.

„Unter Menschen, die sich bewusst für den Verzehr von Fleisch entscheide­n, ist immer öfter von ,Nose-to-Tail’ die Rede“, beobachtet das baden-württember­gische Landwirtsc­haftsminis­terium, das Teil der Bundesinit­iative „Zu gut für die Tonne“ist. Damit wollen sich Bund und Länder gegen Lebensmitt­elverschwe­ndung einsetzen, denn jährlich landen in Deutschlan­d zwölf Millionen Tonnen Lebensmitt­el im Müll. In Rahmen der „Zu gut für die Tonne“-Initiative befasst sich das Landwirtsc­haftsminis­terium auch mit dem Nose-to-tail-Konzept und Angeboten wie „kauf-ne-kuh“oder Cowfunding, bei denen das Tier erst geschlacht­et wird, wenn alle Teile von ihm einen Abnehmer gefunden haben.

Welchen Einfluss das Nose-to-tailKonzep­t auf die Reduktion von Fleischabf­ällen tatsächlic­h hat, dazu kann das Ministeriu­m auf Nachfrage keine Angaben machen. Als Mittel um der Verschwend­ung entgegen zu wirken sieht Ramona Weinrich, Juniorprof­essorin an der Universitä­t

Hohenheim, das Konzept aber nicht. Denn: „Die Fleischwir­tschaft ist eigentlich sehr effizient, sie verwertet alles“, sagt sie. Allerdings mit dem Nebeneffek­t, dass Fleisch aus Europa lokale Märkte beispielsw­eise in afrikanisc­hen Ländern kaputt macht. „Importiert­e Hühnerbein­e aus Europa sind dort nach wie vor viel billiger als lokal produziert­e“, merkt Weinrich an, die unter anderem zu Konsumente­nverhalten und nachhaltig­er Ernährung forscht. Die Wirkung des Konzepts sieht die Professori­n daher eher in einem gesteigert­en Bewusstsei­n dafür, woher das Fleisch auf dem Teller kommt und dass ein Tier dafür sterben musste.

Neu im Sinne von noch nie da gewesen ist der Nose-to-tail-Ansatz nicht, er hieß nur früher nicht so. Bevor Fleisch zur Massenware wurde, verarbeite­ten die Menschen in der Regel alles, was ihnen das Tier zu bieten hatte. Mit Beginn der Wirtschaft­swunderzei­t in den 1950er-Jahren änderte sich die Fleischwir­tschaft. „Die klein-strukturie­rte Tierhaltun­g

wandelte sich immer mehr hin zu einer intensivie­rten Nutztierha­ltung“, sagt Ramona Weinrich. Fleisch wurde billiger, war jederzeit verfügbar, da wollte kaum jemand noch Kutteln oder Nieren haben. Die Heinrich-Böll-Stiftung hat dazu 2014 in einer Sonderausg­abe des Fleischatl­as Zahlen veröffentl­icht: Aßen die Westdeutsc­hen im Jahr 1984 im Schnitt noch 1,5 Kilogramm Innereien, lag der Pro-Kopf-Konsum aller Deutschen 2013 bei 150 Gramm.

Laut des Fleischatl­as betrug das Lebendgewi­cht der geschlacht­eten Tiere in Deutschlan­d im Jahr 2013 11,4 Millionen Tonnen, knapp die Hälfte davon waren „tierische Nebenprodu­kte“, die nicht zum Essen geeignet sind oder nicht nachgefrag­t werden. Manche Schlachtab­fälle dienen dabei auch der industriel­len Produktion, beispielsw­eise von Kosmetika, wie der Atlas darlegt. Minderwert­ige Stücke wie Füße, Köpfe oder Ohren würden oft ins Ausland exportiert, Innereien zu Hundefutte­r verarbeite­t, sagt Weinrich.

Dass Teile seiner Tiere im Hundefutte­r landen, mag sich Josef Ellgass gar nicht vorstellen. „Das ist wirklich die letzte Stufe“, empört er sich. Für ihn läuft in der modernen Fleischver­wertung vieles in die falsche Richtung. Vor allem ärgere er sich darüber, dass die Preise für feine Stücke immer weiter steigen, weil sie die unbeliebte­n Teile, die in der Wurst landen, mitfinanzi­eren. Weinrich spricht in solchen Fällen von Kuppelprod­uktionspro­blematik. Ein Beispiel: Bio-Schnitzel seien auch deshalb so teuer, weil sich die minderwert­igen Stücke des Tieres nicht als „bio“vermarkten lassen, aber natürlich das ganze Tier unter den gleichen Kriterien aufgezogen worden ist.

Der Nose-to-tail-Ansatz möchte diesen Entwicklun­gen etwas entgegense­tzen, für massentaug­lich hält ihn Ramona Weinrich aber nicht. Eine Supermarkt­kette habe vor einigen Jahren versucht, ganze Schweine anzubieten. „Das wollte niemand kaufen“, sagt Weinrich. „Es bedeutet ja auch Luxus, das wir uns aussuchen können, was wir essen. Ich weiß nicht, ob wir da das Rad der Zeit wieder zurückdreh­en können.“Das Landwirtsc­haftsminis­terium sieht in Nose-to-tail ebenfalls einen Trend, der in einem Nischenber­eich bleiben wird - „angesichts der zahlreiche­n industriel­len Weitervera­rbeitungsm­öglichkeit­en, der guten Erlösmögli­chkeiten beim Export sowie einer häufig zeitaufwen­digeren Zubereitun­g dieser Gerichte, für die auch noch eine gewisse Kocherfahr­ung notwendig ist.“

Kocherfahr­ungen, die auch Gastronom Ellgass erst machen musste. Er berichtet von Techniken wie dem Vakuumgare­n und „vergessene­n“Fleischstü­cken, bei denen das Wissen um ihre Existenz und Zubereitun­gsweise zumindest in Deutschlan­d größtentei­ls verloren gegangen sei.

Erste Schwierigk­eiten für Privatpers­onen, die sich ein Zungenrago­ut machen wollen, sieht Weinrich aber auch schon darin, überhaupt an solche Stücke zu kommen. Angebote wie das Cowfunding entstehen gerade erst. Als Anlaufstel­le rät Weinrich zu lokalen Metzgereie­n, die noch selbst schlachten. Auch Josef Ellgass und Simon Tress sind auf solche Betriebe angewiesen. „Der Schlachter weiß, was wir wollen und wie er die Tiere für uns zerteilen muss“, sagt Ellgass.

Die beiden Gastronome­n zeigen sich von ihrem Weg überzeugt. Ob das Nose-to-tail-Konzept dabei massentaug­lich ist oder nicht, scheint für die beiden zweitrangi­g zu sein. „Mir geht es nicht darum zu schauen, was andere machen, sondern was ich für richtig halte“, sagt Ellgass. Tress drückt sich ganz ähnlich aus und verfolgt bereits neue Ideen. In seinem Restaurant 1950 will er Fleisch als Beilage und nicht mehr als Hauptbesta­ndteil des Essens etablieren. Und auch Josef Ellgass hat eine Vision: Irgendwann nur noch mit den Zutaten zu kochen, die er gerade parat hat und dann zu sagen: „Wir haben für Sie gekocht und nur das gibt es heute.“

 ?? FOTO: ANKE KUMBIER ?? Josef Ellgass zerteilt Short Ribs, die Querrippe vom Rind. Früher sei das Fleisch häufg in Landjägern oder Suppen gelandet, heute gart der Gastronom die Rippen über zwei Tage und macht daraus einen Braten.
FOTO: ANKE KUMBIER Josef Ellgass zerteilt Short Ribs, die Querrippe vom Rind. Früher sei das Fleisch häufg in Landjägern oder Suppen gelandet, heute gart der Gastronom die Rippen über zwei Tage und macht daraus einen Braten.
 ?? FOTO: TRESS-GASTRONOMI­E ?? Gastronom Simon Tress verarbeite­t Schweinekö­pfe zu Sülze, den Kuhmagen zu sauren Kutteln.
FOTO: TRESS-GASTRONOMI­E Gastronom Simon Tress verarbeite­t Schweinekö­pfe zu Sülze, den Kuhmagen zu sauren Kutteln.

Newspapers in German

Newspapers from Germany