Schwäbische Zeitung (Biberach)
Hilfe für Opfer häuslicher Gewalt
Wer Gewalt erlitten hat findet jetzt bei der Gewaltopferambulanz Hilfe – ohne Polizei
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ULM - Eine Frau kommt in die Notaufnahme, angeblich ist sie die Treppe heruntergefallen. Dann aber stellt sich heraus, dass doch alles ganz anders war: Ihr Mann hat sie geschlagen. Diesen Fall hat es gegeben, die Frau ist an der Gewaltopferambulanz in Ulm untersucht worden. So erzählen es Professor Sebastian Kunz, der Chef der Ulmer Rechtsmedizin, und Anna Müller, die Leiterin der Gewaltopferambulanz. Eines Tages kann der Frau diese Untersuchung dabei helfen, sich vor Gericht zu wehren. Eines Tages. Denn den Schritt zur Polizei scheuen viele Opfer. „Mit gutem Grund“, sagt Sebastian Kunz.
„Die Gefährdungssituation hört ja nicht mit Schlägen auf“, sagt der Arzt. Wer häusliche Gewalt erlebt habe, kehre in den meisten Fällen wieder in die Familie zurück. Eine Anzeige erscheine manchen Betroffenen deswegen zu gefährlich. Wer sich aber Tage, Wochen oder sogar Jahre später doch zu einem Schritt entscheidet, hat dank der Ulmer Fachleute etwas in der Hand. Was dort besprochen und erfasst wird, bleibt vertraulich, die Polizei ist außen vor. Das Angebot steht jedem offen, unbürokratisch und kostenlos.
Seit Anfang Mai gibt es die Anlaufstelle für Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt. Um etwa 20 Fälle hat sich das Team um Rechtsmedizinerin und Leiterin Anna Müller bereits gekümmert. Mal blieb es bei einer telefonischen Beratung, mal wurden Opfer untersucht. Die Opfer sind vor allem Frauen und Kinder, selten auch Männer.
Die persönlichen Treffen dauern etwa eine Stunde und beginnen mit einem Gespräch. Die Rechtsmediziner erfragen, was genau geschehen ist. Danach nehmen sie die Opfer selbst in Augenschein. „Wir untersuchen möglichst die ganze Körperoberfläche“, beschreibt Müller. Spuren von Gewalt, zum Beispiel blaue Flecken, werden fotografiert. In manchen Fällen nehme man auch DNA-Spuren mit einem Wattetupfer auf. Diese Spuren sollen für mindestens fünf Jahre aufbewahrt werden, sagt Sebastian Kunz.
„Wer an die Rechtsmedizin denkt, denkt erst mal an Leichen im Keller“, räumt der Gerichtsmediziner ein. Und Professor Thomas Wirth, Dekan der medizinischen Fakultät an der Uni Ulm, gesteht: „Es ist nicht die klassische Lehre und nicht die klassische Krankenversorgung.“
Dennoch sei diese Anlaufstelle unglaublich wichtig. Sie helfe, dass Gewalt aufgearbeitet wird. Baden-Württembergs Sozialminister Manne Lucha hofft, dass das Dunkelfeld solcher Straftaten durch die Anlaufstelle aufgehellt wird. „Wir stehen an der Seite der Opfer und erniedrigen sie nicht. Aber wir verfolgen auch die Täter“, betont er.
Früher waren rechtsmedizinisch dokumentierte Gewaltfolgen nur in Kombination mit einer Anzeige gerichtsfest. Inzwischen hat sich die Rechtslage geändert. Die Bilder und Spuren gelten auch ohne sofortige Anzeige vor Gericht, und zwar so lange, bis die Straftat verjährt ist. Dennoch geht es den Ulmern nicht nur um Hilfe bei der Strafverfolgung, sondern auch um Aufklärung. Einer Frau mit Migrationshintergrund habe man erst einmal erklären müssen, dass sie die Gewalt durch ihren Mann nicht einfach hinnehmen müsse, erzählt Kunz.
In speziellen Fällen wenden sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gewaltopferambulanz unter Umständen direkt an die Behörden, sei es Polizei oder Jugendamt. Etwa, wenn ein Kind in Gefahr ist. Durch Gewalt, die nicht unbedingt von den Eltern ausgehen müsse. Auch Großeltern oder andere Verwandten könnten körperlich werden, sagt Kunz. Dann gehe es auch darum, die Eltern aufzuklären, wie sie ihr Kind schützen können. Sebastian Kunz ist überzeugt davon, dass die Ambulanz bei der Rechtsmedizin
genau richtig angesiedelt ist. Ja, man habe sonst wenig mit der Versorgung von Patienten zu tun, räumt er ein. Aber die Ärztinnen und Ärzte an seinem Institut wüssten genau, worauf sie achten müssen und worauf es bei der Dokumentation ankommt. „Wir sagen auch mal: Kommen Sie bitte in 24 Stunden noch mal, dann sieht man das deutlicher“, schildert er. Ein
Hausarzt fotografiere nicht jeden blauen Fleck und er fotografiere auch nicht die unverletzten Stellen am Körper, anders als eine Rechtsmedizinerin. Das helfe den Opfern bei möglichen Gerichtsverfahren.
150 000 Euro jährlich stellt das baden-württembergische Sozialministerium für die Ulmer Gewaltopferambulanz zur Verfügung. Im
Auftaktjahr 2021 gibt es sogar noch etwas mehr. Im Land gibt es mit Heidelberg, Freiburg und Stuttgart drei weitere Einrichtungen dieser Art. In Bayern finden Opfer Anlaufstellen in München und Würzburg.
Dass es die Gewaltopferambulanz in der Prittwitzstraße am Fuß des Michelsbergs gibt, geht auf die Initiative der Uniklinik, der Uni und des früheren Ulmer Landtagsabgeordneten
Jürgen Filius zurück, dessen Einsatz sein Nachfolger und Grünen-Parteifreund Michael Joukov-Schwelling hervorhebt.
Die Gewaltopferambulanz in der Prittwitzstraße 6 in Ulm ist unter der Telefonnummer 0731 / 50065009 zu erreichen.