Schwäbische Zeitung (Biberach)
Auf die Stille folgt die wilde Fahrt
Doppelpacker Gnabry erlöst die Bayern an Müllers Gedenktag – 3:2-Sieg über Köln bei Nagelsmanns Heimdebüt
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MÜNCHEN - Julian Nagelsmann nahm seinen ersten Heimsieg als Bayern-Trainer ganz geschäftsmäßig hin. Zu Jubelgesten sah er nach dem ebenso wilden wie mühsamen 3:2 (0:0) gegen den 1. FC Köln keinen Anlass. Erst Serge Gnabry rettete vor 20 000 Fans in der Allianz Arena (damit nach aktuellen Maßgaben ausverkauft) mit seinem Doppelpack und einem Hammerschuss zum 3:2Siegtreffer den Münchner Seelenfrieden. Und lief Nagelsmann, während die Südkurve nach fast eineinhalb Jahren Corona-Abstinenz endlich mal wieder ihre Spieler feiern durfte, nach dem Schlusspiff mit ernster Miene in den Kabinengang.
„Wir sind der glücklichere Sieger. Das Ergebnis ist gut, aber das Spiel war intensiv und viel zu wild – viel hin und her, riesige Abstände“, ärgerte sich der neue Bayern-Coach. „Die Mentalität hat aber auf jeden Fall gestimmt. Wir haben schöne Tore gemacht, aber Fußball ist bei Bayern noch mehr Ergebnissport als anderswo. Wir haben noch was zu tun, müssen noch ein paar Schritte gehen.“
In der Viertelstunde vor dem Anpfiff wurde der am letzten Sonntag verstorbenen Vereinslegende Gerd Müller (†75) gedacht. Am Zaun unterhalb der Südkurve hing ein Transparent mit der Würdigung für den einstigen Bomber der Nation: „Einsatz und Identifikation – eine Legende des FC Bayern. Ruhe in Frieden, Gerd Müller!“Dann kam die Zeit der emotionalen Reden, gehalten am Mittelkreis. Erst Präsident Herbert Hainer („Gerd war einer der Allergrößten und hinterlässt uns ein Vermächtnis“), gefolgt von Ex-Mitspieler und Weggefährte Uli Hoeneß, der sehr bewegt wirkte. Der Ehrenpräsident begann mit „Mein lieber Gerd“und würdigte explizit Müllers im Stadion anwesende Ehefrau Uschi, die ihren Ehemann (seit 1967 verheiratet, Tochter Nicole) nach der Diagnose Demenz infolge der Alzheimer-Erkrankung über viele Jahre in einem Pflegeheim bei München tagtäglich betreut hatte. Eine „mörderische Krankheit“, so Hoeneß, die das Leben des einstigen Torjägers zerstört habe. In seiner rührenden Rede sprach der
SJürgen Klopp.
o kennt man Wohl kaum ein Anderer im bezahlten Fußball lebt so sehr von den Emotionen wie der Trainer des FC Liverpool. Und so stand der 54-Jährige – nach einer Augenoperation neuerdings ohne Brille – am Samstag nach dem 2:0-Sieg seiner Mannschaft gegen den FC Burnley völlig ergriffen vor den Heimfans. Erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie durfte das altehrwürdige Stadion an der Anfield Road mit mehr als 52 000 Fans wieder ausverkauft sein – und die Fans brachten das zurück, was alle, die den Fußball lieben, so sehnlichst vermisst haben: Lieder, Atmosphäre, Emotionen. „Außergewöhnlich, großartig. Es gab Momente, wo man die Tränen extrem schwer zurückhalten konnte“, schwärmte Klopp noch am Tag danach bei Bild TV. „Wir haben das so lange nicht gehabt. Es waren, glaube ich, 529 Tage bei uns. Und das ist natürlich eine extrem lange Zeit. Ich hätte niemals gedacht, dass ich solange darauf verzichten muss.“Und Klopp wäre nicht Klopp, hätte er nicht den passenden Spruch parat: „Es ist nicht nur das Salz in der Suppe, sondern auch noch die Suppe dazu.“Denn, das weiß nicht nur der gebürtige Schwarzwälder, Fußball hat nur dann bleibende Bedeutung, wenn er Gefühle auslöst.
Angesichts der Bilder und vor allem ● der Akustik aus England ist es nicht verwunderlich, dass auch immer mehr Clubs der Bundesliga auf die baldige Rückkehr zu vollen Stadien drängen. „Wir werden dahinkommen, dass wir alles öffnen. Es ist nicht mehr aufzuhalten“, sagte etwa Hertha-Geschäftsführer bei Bild TV und schickte zugleich eine Drohung an die Politik: „Wir würden uns einer Klage anschließen.“Dass es zu einem
Fredi Bobic
Ehrenpräsident weiter: „Wir werden dich sehr vermissen und niemals vergessen. Du hast dem FC Bayern das Siegen beigebracht, durch einen wie dich ist das Mia-san-mia entstanden. Dankeschön!“Es folgen Gerd-Müller-Sprechchöre im Stadion. Während der Schweigeminute brandete lautstarkes Klatschen auf.
In dieser getragenen, wehmütigen Stimmung – und natürlich mit Trauerflor
Verfahren um die vollständige Belegung der Stadien kommt, ist nicht auszuschließen. Schließlich haben vor Bobic auch schon andere Clubverantwortliche
– agierte der FC Bayern in der ersten Hälfte. Irgendwie in Moll, umständlich, schwerfällig. Da half nicht mal, dass Kapitän Manuel Neuer trotz seiner beim Supercup-Erfolg in Dortmund (3:1) erlittenen Kapselverletzung am rechten Sprunggelenk doch noch auflaufen konnte. In der Abwehr kam überraschend Tanguy Nianzou anstelle von Josip Stanisic zum Einsatz. Trainer Julian Nagelsmann
wie BVB-Geschäfstführer
in ein ähnliches
Hans-Joachim Watzke
Horn gestoßen.
Das Anliegen der deutschen Clubs ● ist nachvollziehbar. Für sie geht es um mehr als die Atmosphäre im Stadion. Es geht vor allem um Einnahmen in Millionenhöhe. Ohne die wichtigen Ticketverkäufe drohen die deutschen Clubs noch mehr den Anschluss im internationalen Wettbewerb zu verlieren – der zumindest im Vergleich zur englischen Premier League sowieso schon nicht zu erreichen ist. Finanzielle Interessen Einzelner dürfen aber nicht über das Wohl und die Gesundheit der gesamten Bevölkerung gestellt werden. Deshalb ist bei weiteren Öffnungen – die es ohne Frage trotz erneut steigender Infektionszahlen irgendwann geben muss – das richtige Augenmaß gefragt. Ansonsten besteht die große Gefahr, dass die Suppe
hatte eine Dreierkette (Nianzou, Upamecano, Süle) aufgeboten, daher musste Leroy Sané als Schienenspieler auf Rechtsaußen defensive Dienste verrichten. Was ihm nicht behagte. Nach vorne verlor der Nationalspieler viele Bälle, spielte Fehlpässe. Pfiffe brandeten auf, die sich aber auch gegen die gesamte, lahme Mannschaft richteten. Nagelsmann hinterher dazu: „Es gehört sich, dass die Fans die eigenen Spieler unterstützen, das ist mir immer wichtig. Alles andere bringt wenig.“
Zur zweiten Halbzeit korrigiert sich Nagelsmann, verwarf seine Idee mit der Dreierkette: Mit Shootingstar Stanisic statt Nianzou kehrte er zur gewohnten Viererkette zurück, brachte Jamal Musiala für den schwachen Sané, dessen Auswechslung teils mit Jubel bedacht wurde. Und dann ging plötzlich die Post ab: Auf Vorlage des stark aufspielenden Teenagers Musiala traf Weltfußballer Robert Lewandowski (50.) zum 1:0, sein saisonübergreifend zwölftes
– um in Klopps Bild zu bleiben – im Übereifer versalzen wird und ohne jeglichen Genuss wieder in den Abfluss gegossen werden muss.
Wie gefährlich eine zu voreilige Öffnung ● ist, zeigt schließlich ebenfalls das Beispiel England: Bei den Finalspielen der Europameisterschaft in London mit Zehntausenden Zuschauern und etlichen Fans rund um das Wembley-Stadion haben sich im Juli mehr als 3000 Menschen mit dem Coronavirus infiziert, wie die Gesundheitsbehörde Public Health England am Freitag mitteilte. Auch wenn das Sportministerium nicht sagen konnte, wie viele Menschen sich tatsächlich im Stadion ansteckten und wie viele bei Ansammlungen außerhalb, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass eine Vielzahl der Infektionen auf die Fanfeste in der Stadt zurückgeht.
Aus diesen Erfahrungen gilt es zu ● lernen. Es müssen endlich klare Studien zur Ansteckungsgefahr bei Großveranstaltungen her. Der Profifußball darf dabei gerne wieder den Vorreiter geben. Vorwiegend natürlich aus Eigennutz, so wie schon im vergangenen Jahr. Profitieren davon könnten aber auch viele Bereiche des öffentlichen Leben. Bis aber handfeste Ergebnisse vorliegen, sollten sich die Clubs mit den zum Drittel gefüllten Stadion zufrieden geben – die Spieler selbst sind es bereits: „Geil. Das ist es, wofür jeder Fußballer lebt“, sagte Bochums
nach dem ersten Bundesligaheimspiel des Ruhrvereins seit elf Jahren. „Egal, in welchem Stadion der Welt, Fans gehören ins Stadion, um diese Momente mitzuerleben, zu Hause oder auswärts feiern zu gehen und am Abend noch ein Bierchen zu nehmen.“Eine gute Grundlage, auf der man nun aufbauen kann.
Sebastian Polter
Bundesliga-Tor in Folge – womit er seinen persönlichen Rekord aus der Saison 2012/13 einstellte (damals für Borussia Dortmund). Serge Gnabry erhöhte auf 2:0 (59.), dann kam der bayerische Filmriss: In zwei Minuten durfte Köln, herzlich eingeladen von Bayerns Abwehr, auf 2:2 stellen. Erst durch Anthony Modeste, dann durch Mark Uth (60./62.). Der Fast-Absteiger, erst in der Relegation gegen Holstein Kiel gerettet, ärgerte den AboMeister. „Meine Jungs haben einen sehr guten Schritt gemacht, eine gute Entwicklung. Dass ich mich ein bisschen ärgere, das ist verständlich“, sagte FC-Coach Steffen Baumgart.
Erst Gnabrys WuchtbrummenSchuss zum 3:2 nach Kimmich-Vorlage (71.) besänftigte Fans und Coach Nagelsmann, der diesmal mehr einem Rohrspatz als einem (Titel-) Hamster glich. Immerhin: Bayerns erster Liga-Sieg in dieser Saison ist eingetütet. Am Mittwoch geht’s in der ersten DFB-Pokal-Runde bei Fünftligist Bremer SV weiter.