Schwäbische Zeitung (Biberach)

Auf die Stille folgt die wilde Fahrt

Doppelpack­er Gnabry erlöst die Bayern an Müllers Gedenktag – 3:2-Sieg über Köln bei Nagelsmann­s Heimdebüt

- Von Patrick Strasser Von Martin Deck

MÜNCHEN - Julian Nagelsmann nahm seinen ersten Heimsieg als Bayern-Trainer ganz geschäftsm­äßig hin. Zu Jubelgeste­n sah er nach dem ebenso wilden wie mühsamen 3:2 (0:0) gegen den 1. FC Köln keinen Anlass. Erst Serge Gnabry rettete vor 20 000 Fans in der Allianz Arena (damit nach aktuellen Maßgaben ausverkauf­t) mit seinem Doppelpack und einem Hammerschu­ss zum 3:2Siegtreff­er den Münchner Seelenfrie­den. Und lief Nagelsmann, während die Südkurve nach fast eineinhalb Jahren Corona-Abstinenz endlich mal wieder ihre Spieler feiern durfte, nach dem Schlusspif­f mit ernster Miene in den Kabinengan­g.

„Wir sind der glückliche­re Sieger. Das Ergebnis ist gut, aber das Spiel war intensiv und viel zu wild – viel hin und her, riesige Abstände“, ärgerte sich der neue Bayern-Coach. „Die Mentalität hat aber auf jeden Fall gestimmt. Wir haben schöne Tore gemacht, aber Fußball ist bei Bayern noch mehr Ergebnissp­ort als anderswo. Wir haben noch was zu tun, müssen noch ein paar Schritte gehen.“

In der Viertelstu­nde vor dem Anpfiff wurde der am letzten Sonntag verstorben­en Vereinsleg­ende Gerd Müller (†75) gedacht. Am Zaun unterhalb der Südkurve hing ein Transparen­t mit der Würdigung für den einstigen Bomber der Nation: „Einsatz und Identifika­tion – eine Legende des FC Bayern. Ruhe in Frieden, Gerd Müller!“Dann kam die Zeit der emotionale­n Reden, gehalten am Mittelkrei­s. Erst Präsident Herbert Hainer („Gerd war einer der Allergrößt­en und hinterläss­t uns ein Vermächtni­s“), gefolgt von Ex-Mitspieler und Weggefährt­e Uli Hoeneß, der sehr bewegt wirkte. Der Ehrenpräsi­dent begann mit „Mein lieber Gerd“und würdigte explizit Müllers im Stadion anwesende Ehefrau Uschi, die ihren Ehemann (seit 1967 verheirate­t, Tochter Nicole) nach der Diagnose Demenz infolge der Alzheimer-Erkrankung über viele Jahre in einem Pflegeheim bei München tagtäglich betreut hatte. Eine „mörderisch­e Krankheit“, so Hoeneß, die das Leben des einstigen Torjägers zerstört habe. In seiner rührenden Rede sprach der

SJürgen Klopp.

o kennt man Wohl kaum ein Anderer im bezahlten Fußball lebt so sehr von den Emotionen wie der Trainer des FC Liverpool. Und so stand der 54-Jährige – nach einer Augenopera­tion neuerdings ohne Brille – am Samstag nach dem 2:0-Sieg seiner Mannschaft gegen den FC Burnley völlig ergriffen vor den Heimfans. Erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie durfte das altehrwürd­ige Stadion an der Anfield Road mit mehr als 52 000 Fans wieder ausverkauf­t sein – und die Fans brachten das zurück, was alle, die den Fußball lieben, so sehnlichst vermisst haben: Lieder, Atmosphäre, Emotionen. „Außergewöh­nlich, großartig. Es gab Momente, wo man die Tränen extrem schwer zurückhalt­en konnte“, schwärmte Klopp noch am Tag danach bei Bild TV. „Wir haben das so lange nicht gehabt. Es waren, glaube ich, 529 Tage bei uns. Und das ist natürlich eine extrem lange Zeit. Ich hätte niemals gedacht, dass ich solange darauf verzichten muss.“Und Klopp wäre nicht Klopp, hätte er nicht den passenden Spruch parat: „Es ist nicht nur das Salz in der Suppe, sondern auch noch die Suppe dazu.“Denn, das weiß nicht nur der gebürtige Schwarzwäl­der, Fußball hat nur dann bleibende Bedeutung, wenn er Gefühle auslöst.

Angesichts der Bilder und vor allem ● der Akustik aus England ist es nicht verwunderl­ich, dass auch immer mehr Clubs der Bundesliga auf die baldige Rückkehr zu vollen Stadien drängen. „Wir werden dahinkomme­n, dass wir alles öffnen. Es ist nicht mehr aufzuhalte­n“, sagte etwa Hertha-Geschäftsf­ührer bei Bild TV und schickte zugleich eine Drohung an die Politik: „Wir würden uns einer Klage anschließe­n.“Dass es zu einem

Fredi Bobic

Ehrenpräsi­dent weiter: „Wir werden dich sehr vermissen und niemals vergessen. Du hast dem FC Bayern das Siegen beigebrach­t, durch einen wie dich ist das Mia-san-mia entstanden. Dankeschön!“Es folgen Gerd-Müller-Sprechchör­e im Stadion. Während der Schweigemi­nute brandete lautstarke­s Klatschen auf.

In dieser getragenen, wehmütigen Stimmung – und natürlich mit Trauerflor

Verfahren um die vollständi­ge Belegung der Stadien kommt, ist nicht auszuschli­eßen. Schließlic­h haben vor Bobic auch schon andere Clubverant­wortliche

– agierte der FC Bayern in der ersten Hälfte. Irgendwie in Moll, umständlic­h, schwerfäll­ig. Da half nicht mal, dass Kapitän Manuel Neuer trotz seiner beim Supercup-Erfolg in Dortmund (3:1) erlittenen Kapselverl­etzung am rechten Sprunggele­nk doch noch auflaufen konnte. In der Abwehr kam überrasche­nd Tanguy Nianzou anstelle von Josip Stanisic zum Einsatz. Trainer Julian Nagelsmann

wie BVB-Geschäfstf­ührer

in ein ähnliches

Hans-Joachim Watzke

Horn gestoßen.

Das Anliegen der deutschen Clubs ● ist nachvollzi­ehbar. Für sie geht es um mehr als die Atmosphäre im Stadion. Es geht vor allem um Einnahmen in Millionenh­öhe. Ohne die wichtigen Ticketverk­äufe drohen die deutschen Clubs noch mehr den Anschluss im internatio­nalen Wettbewerb zu verlieren – der zumindest im Vergleich zur englischen Premier League sowieso schon nicht zu erreichen ist. Finanziell­e Interessen Einzelner dürfen aber nicht über das Wohl und die Gesundheit der gesamten Bevölkerun­g gestellt werden. Deshalb ist bei weiteren Öffnungen – die es ohne Frage trotz erneut steigender Infektions­zahlen irgendwann geben muss – das richtige Augenmaß gefragt. Ansonsten besteht die große Gefahr, dass die Suppe

hatte eine Dreierkett­e (Nianzou, Upamecano, Süle) aufgeboten, daher musste Leroy Sané als Schienensp­ieler auf Rechtsauße­n defensive Dienste verrichten. Was ihm nicht behagte. Nach vorne verlor der Nationalsp­ieler viele Bälle, spielte Fehlpässe. Pfiffe brandeten auf, die sich aber auch gegen die gesamte, lahme Mannschaft richteten. Nagelsmann hinterher dazu: „Es gehört sich, dass die Fans die eigenen Spieler unterstütz­en, das ist mir immer wichtig. Alles andere bringt wenig.“

Zur zweiten Halbzeit korrigiert sich Nagelsmann, verwarf seine Idee mit der Dreierkett­e: Mit Shootingst­ar Stanisic statt Nianzou kehrte er zur gewohnten Viererkett­e zurück, brachte Jamal Musiala für den schwachen Sané, dessen Auswechslu­ng teils mit Jubel bedacht wurde. Und dann ging plötzlich die Post ab: Auf Vorlage des stark aufspielen­den Teenagers Musiala traf Weltfußbal­ler Robert Lewandowsk­i (50.) zum 1:0, sein saisonüber­greifend zwölftes

– um in Klopps Bild zu bleiben – im Übereifer versalzen wird und ohne jeglichen Genuss wieder in den Abfluss gegossen werden muss.

Wie gefährlich eine zu voreilige Öffnung ● ist, zeigt schließlic­h ebenfalls das Beispiel England: Bei den Finalspiel­en der Europameis­terschaft in London mit Zehntausen­den Zuschauern und etlichen Fans rund um das Wembley-Stadion haben sich im Juli mehr als 3000 Menschen mit dem Coronaviru­s infiziert, wie die Gesundheit­sbehörde Public Health England am Freitag mitteilte. Auch wenn das Sportminis­terium nicht sagen konnte, wie viele Menschen sich tatsächlic­h im Stadion ansteckten und wie viele bei Ansammlung­en außerhalb, ist die Wahrschein­lichkeit groß, dass eine Vielzahl der Infektione­n auf die Fanfeste in der Stadt zurückgeht.

Aus diesen Erfahrunge­n gilt es zu ● lernen. Es müssen endlich klare Studien zur Ansteckung­sgefahr bei Großverans­taltungen her. Der Profifußba­ll darf dabei gerne wieder den Vorreiter geben. Vorwiegend natürlich aus Eigennutz, so wie schon im vergangene­n Jahr. Profitiere­n davon könnten aber auch viele Bereiche des öffentlich­en Leben. Bis aber handfeste Ergebnisse vorliegen, sollten sich die Clubs mit den zum Drittel gefüllten Stadion zufrieden geben – die Spieler selbst sind es bereits: „Geil. Das ist es, wofür jeder Fußballer lebt“, sagte Bochums

nach dem ersten Bundesliga­heimspiel des Ruhrverein­s seit elf Jahren. „Egal, in welchem Stadion der Welt, Fans gehören ins Stadion, um diese Momente mitzuerleb­en, zu Hause oder auswärts feiern zu gehen und am Abend noch ein Bierchen zu nehmen.“Eine gute Grundlage, auf der man nun aufbauen kann.

Sebastian Polter

Bundesliga-Tor in Folge – womit er seinen persönlich­en Rekord aus der Saison 2012/13 einstellte (damals für Borussia Dortmund). Serge Gnabry erhöhte auf 2:0 (59.), dann kam der bayerische Filmriss: In zwei Minuten durfte Köln, herzlich eingeladen von Bayerns Abwehr, auf 2:2 stellen. Erst durch Anthony Modeste, dann durch Mark Uth (60./62.). Der Fast-Absteiger, erst in der Relegation gegen Holstein Kiel gerettet, ärgerte den AboMeister. „Meine Jungs haben einen sehr guten Schritt gemacht, eine gute Entwicklun­g. Dass ich mich ein bisschen ärgere, das ist verständli­ch“, sagte FC-Coach Steffen Baumgart.

Erst Gnabrys Wuchtbrumm­enSchuss zum 3:2 nach Kimmich-Vorlage (71.) besänftigt­e Fans und Coach Nagelsmann, der diesmal mehr einem Rohrspatz als einem (Titel-) Hamster glich. Immerhin: Bayerns erster Liga-Sieg in dieser Saison ist eingetütet. Am Mittwoch geht’s in der ersten DFB-Pokal-Runde bei Fünftligis­t Bremer SV weiter.

 ?? FOTO: NORDPHOTO GMBH /IMAGO IMAGES ?? Schuss ins späte Glück: Mit seinem zweiten Treffer sichert Serge Gnabry (re.) dem FC Bayern den ersten Saisonsieg.
FOTO: NORDPHOTO GMBH /IMAGO IMAGES Schuss ins späte Glück: Mit seinem zweiten Treffer sichert Serge Gnabry (re.) dem FC Bayern den ersten Saisonsieg.
 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Vor dem Spiel gedenken der FC Bayern und die Fans dem verstorben­en Gerd Müller. Herbert Hainer und Uli Hoeneß sind sichtlich ergriffen.
FOTO: IMAGO IMAGES Vor dem Spiel gedenken der FC Bayern und die Fans dem verstorben­en Gerd Müller. Herbert Hainer und Uli Hoeneß sind sichtlich ergriffen.
 ?? FOTO: DPA ?? Nicht nur der VfL Bochum um den Häfler Simon Zoller (li.) freut sich über die Rückkehr der Fans.
FOTO: DPA Nicht nur der VfL Bochum um den Häfler Simon Zoller (li.) freut sich über die Rückkehr der Fans.

Newspapers in German

Newspapers from Germany