Schwäbische Zeitung (Biberach)
Hier Politsatire, dort Paarungsstudie
Die Innsbrucker Festwochen Alter Musik zeigen packende Barockopern von Mattheson und Telemann
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INNSBRUCK - Drei Stunden dauert Johann Matthesons turbulente Oper „Boris Goudenow“, zwei Stunden Georg Philipp Telemanns reizende szenische Serenate „Pastorelle en musique“– eine Pause jeweils inbegriffen. Die im frühen 18. Jahrhundert entstandenen Stücke sind jetzt bei den Innsbrucker Festwochen Alter Musik fulminant wiederbelebt worden. Die Partituren hatten lange als verschollen gegolten und waren erst in jüngster Zeit aufgefunden worden. Das weltweit beachtete, seit 2010 vom Stuttgarter Dirigenten Alessandro de Marchi geleitete Festival bestätigte mit diesen beiden Produktionen einmal mehr seinen Ruf als bedeutendes Podium für barocke Raritäten.
Matthesons „Boris“entpuppte sich in Jean Renshaws intelligenter Inszenierung als ebenso rasanter wie satirisch bissiger Politkrimi. Die musikalische Komödie ist bereits 1710 – rund 160 Jahre vor Modest Mussorgskys bekannter Version desselben Stoffs – für die Hamburger Oper am Gänsemarkt entstanden, musste aber fast 300 Jahre auf ihre Uraufführung warten. Der Komponist, der das Libretto selbst gedichtet hatte, zog sein Werk nämlich wegen nicht genau erklärter „Bedencken“zurück. Über Gründe für diese Entscheidung kann man nur spekulieren.
Vielleicht erschien Mattheson die schonungslos aufs Korn genommene Usurpation des Zarenthrons durch die Titelfigur zu brisant. Immerhin strebte die Hansestadt Hamburg damals Handelsbeziehungen zum neu gegründeten St. Petersburg an. Die russische Gesandtschaft hätte empfindlich reagieren können. So blieb die Partitur im Giftschrank. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie zum Schutz vor Bombenschäden ausgelagert und tauchte erst 1998 in Armenien wieder auf. 2005 wurde die Oper mit dem Untertitel „Der durch Verschlagenheit erlangte Thron“endlich in Hamburg konzertant, in Boston auch szenisch aus der Taufe gehoben.
Unter der Leitung von Andrea Marchiol kam Matthesons „Boris Goudenow“nun in Innsbruck auf die Bühne. Szenisch wie musikalisch gelang eine brillante Aufführung. Viele der jungen Sänger und Sängerinnen, die hier ihr Können unter Beweis stellten, haben im vergangenen Jahr Preise beim renommierten Innsbrucker Cesti-Wettbewerb für Barockgesang gewonnen. Das OriginalklangEnsemble Concerto Theresia ließ Matthesons reiche Musik in all ihren prächtigen Farben aufblühen. Auch ihr ganz auf die Szene gemünzter Sarkasmus und Humor kam hinreißend zur Geltung.
Renshaws Inszenierung zieht die stellenweise an Shakespeares finstere Königsdramen gemahnende Farce ins Heute und legt gerade damit ihre zeitlos gültige Analyse von Machtmechanismen frei. Ob unter Zaren, kommunistischen Diktatoren oder modernen Autokraten: Die Methoden haben sich nicht wirklich gewandelt. Sadistisch lässt Boris seinen alten Vorgänger im Rollstuhl von einem kanonsingenden Chirurgenteam mit Giftspritze, Kreissäge und Riesenschere abmurksen – eine Szene, die in gruselig-grotesker Überzeichnung den Fall Nawalny vor Augen ruft.
In völlig andere Welten führt Telemanns musikalisches Schäferspiel „Pastorelle“. Für dessen Text, der ebenfalls vom Komponisten stammt, hat eine Vorlage von Molière Pate gestanden. Das scheinbar ganz unbeschwert daherkommende Stück zielt auf das Paarungsverhalten junger Menschen, thematisiert aber unter der Hand auch den Ernst, der besonders für Frauen einst mit der Entscheidung für einen Partner verbunden war. Probebeziehungen kamen nicht infrage. Man hatte nur einen Versuch.
Die Blockflötenvirtuosin und Dirigentin Dorothee Oberlinger präsentiert das reizvolle Hochzeitsstück mit ihrem Ensemble 1700 mustergültig in Rokoko-Kulissen.
Informationen zum Programm der Innsbrucker Festwochen: www.altemusik.at