Schwäbische Zeitung (Biberach)
Im Kampf gegen das Vergessen
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s gibt ein böses Klischee in Hollywood: Der sicherste Weg, einen Oscar zu gewinnen, sei es, eine Figur mit schwerer Krankheit oder anderen Einschränkungen zu spielen. Vor diesem Hintergrund mag man erstmal skeptisch sein, ob „The Father“seinem Thema, der Demenzerkrankung der Hauptfigur, noch einen neuen Aspekt abgewinnen kann, auch wenn Anthony Hopkins die Hauptrolle spielt. Doch dann zeigt sich schnell: Der Film von Florian Zeller wählt einen einzigartigen Zugang zu dem Thema und dürfte viele Zuschauer zwar zunächst verwirren, vor allem aber tief berühren.
Denn, soviel darf man vorab verraten, die Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks von Regisseur Zeller versucht zu vermitteln, wie ein Demenzerkrankter selber seine Umwelt wahrnimmt. Und das ist eine zunehmend verstörende Erfahrung. Dabei scheint zunächst noch alles in Ordnung zu sein. Der 80-jährige Anthony (Hopkins) genießt in seinem Londoner Appartement klassische Musik. Als seine Tochter Anne (Olivia Colman, Queen Eliza beth II in „The Crown”) zu Besuch kommt, ist die Unterhaltung zunächst ebenfalls einigermaßen freundlich, wenn auch von ihrer Seite aus leicht besorgt. Schließlich hat ihr Vater gerade erst eine Pflegekraft vergrault und Anne fragt sich nun, wer sich um den Vater kümmern soll. Denn sie hat einen neuen
Mann kennengelernt und will mit ihm nach Paris ziehen.
Anthony reagiert ebenso verletzt wie verletzend, wirft Anne vor, dass sie ihn im Stich lasse und macht klar, dass er seine andere Tochter ohnehin mehr schätze. So weit, so vertraut ist dieser Familienkonflikt, doch dann gibt es immer neue Verschiebungen der Perspektiven. Plötzlich sitzt ein scheinbar fremder Mann (Mark Gatiss) in Anthonys Appartement; als er zur Rede gestellt wird, behauptet er, Annes Mann zu sein und dass dies eigentlich seine Wohnung und Anthony nur zu Gast sei.
So geht es immer weiter, manche Szenen scheinen sich zu wiederholen, wobei es doch stets graduelle Verschiebungen gibt. Die Einrichtung der Wohnung ändert sich in Details, Charaktere handeln anders oder entpuppen sich als jemand an
● ders und Anthony versucht verzweifelt, der jeweiligen Situation Herr zu werden. Es wird deutlich, dass er Zeit seines Lebens wohl ein energisch-selbstbewusster Patriarch war und so klammert er sich nun an gewisse Sprüche und Verhaltensmuster. Auch sein alter Charme blitzt gelegentlich auf, etwa als sich die neue Pflegerin Laura (Imogen Poots) vorstellt.
Was auf dem Papier zunächst vor allem surreal klingen mag, entwickelt als Film eine ganz eigene Sogwirkung. Dazu trägt in allererster Linie Anthony Hopkins bei, der für die darstellerische Leistung 29 Jahre nach „Das Schweigen der Lämmer“seinen zweiten Oscar erhielt – das adaptierte Drehbuch wurde bei der diesjährigen Verleihung der Academy Awards ebenfalls ausgezeichnet. Dass die Rolle mit so einem etablierten und renommierten Schauspieler besetzt wurde, kommt dem Film dabei durchaus zugute. So so verbindet man mit der Figur eine natürliche Autorität und es ist umso verstörender zu erleben, wie dessen Welt ins Wanken gerät.
Doch auch wenn wir das Geschehen – überwiegend oder vielleicht sogar gänzlich – aus Anthonys Perspektive erleben, gelingen den anderen Figuren ebenso viele Nuancen. So bemüht sich Colman als Tochter um klassisch-britische Gelassenheit, doch unter der Oberfläche wird je nach dem Verhalten des Vaters Verletzung oder Zuneigung spürbar. Mit ihrem Mann gerät sie aufgrund der Pflegesituation aneinander und muss gleichzeitig immer wieder erfahren, dass sie mit der verehrten Schwester nicht mithalten kann.
Deren Schicksal gibt ebenfalls einige Rätsel auf wie überhaupt der Film über weite Strecken mit den Stilmitteln eines Thrillers inszeniert ist. Dies erleichtert etwas den Zugang, dennoch muss man bereit sein, sich auf „The Father“einzulassen. Dann wird man mit einer Vielzahl von Emotionen konfrontiert: Trauer, Mitleid, Sorge, dass es einem selber so ergeben könnte – und vielleicht auch etwas mehr Verständnis für Menschen mit solch einem Schicksal.
The Father, Regie: Florian Zeller, GB 2020, 98 Minuten. Mit: Anthony Hopkins, Olivia Colman, Mark Gatiss.