Schwäbische Zeitung (Biberach)
Der Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan hat binnen kürzester Zeit zur Machtübernahme der Taliban geführt. Hat der Westen die Menschen im Land im Stich gelassen?
US-Präsident Donald Trump hat kurz vor der Wahl aus innenpolitischen Gründen auf dieses Pferd gesetzt, um im Amt zu bleiben. Er hat nicht nur die internationale Gemeinschaft vor vollendete Tatsachen gestellt, sondern auch die afghanische Regierung. Aber klar ist: Wir werden die Menschen in Afghanistan weder vergessen noch alleinlassen.
Umgesetzt hat die Entscheidung sein Nachfolger Joe Biden.
Biden musste den Abzug umsetzen. Es gibt eine große Sehnsucht in der US-amerikanischen Gesellschaft nach einem Ende des Krieges in Afghanistan. Die chaotischen Bilder aus Kabul hätten durch eine bessere Abstimmung wahrscheinlich vermieden werden können. Dennoch: Präsident Biden hat im Wahlkampf gesagt, er führt die USA aus einem weiteren Krieg heraus. Insofern hat er Wort gehalten.
Wie groß ist die Mitverantwortung Deutschlands für die aktuelle Lage in Afghanistan?
Wir haben immer Mitverantwortung übernommen. Man muss sich die Bilder von 2001 vor Augen führen. Nach dem 11. September standen die USA unter Schock, 3000 Menschen waren ums Leben gekommen. Afghanistan war damals ein sicherer Hafen für Al Kaida. Aus einer Verantwortung für das Bündnis heraus haben wir die Aufforderung von US-Präsident George W. Bush zur Unterstützung angenommen. Die Tragik war, dass Bush dann so schnell auch im Irak einmarschiert ist. Er hat Afghanistan komplett aus den Augen verloren, auch politisch. Deswegen war es richtig, dass Gerhard Schröder im Gegensatz zu einer damaligen Oppositionsführerin gesagt hat: Wir gehen nicht in den Irak.
Außenminister Maas wird nun vorgeworfen, er habe viel zu spät einen Plan für die Rettung der Ortskräfte und ihrer Familien entwickelt. Hätte die Bundesregie
rung früher müssen?
Das werden wir auf jeden
Fall noch aufarbeiten. Wir haben als SPD schon frühzeitig gesagt, wir brauchen zum Afghanistan-Einsatz eine Enquete-Kommission. Sie soll sich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, was in Afghanistan richtig und was falsch gelaufen ist. Wir müssen unsere Schlüsse daraus ziehen, vor allem: Was können wir den Vereinten Nationen anbieten? Denn die sind es ja, die uns bitten, in Auslandseinsätze zu gehen.
handeln
Noch einmal zur Rettung der Ortskräfte: Es gab schon im Juni einen Antrag der Grünen, den die Koalition abgelehnt hat. Warum?
Eine Annahme des Antrags hätte an der Situation überhaupt nichts geändert, zudem war er überholt. Der Antrag der Grünen ist 2019 formuliert worden, und als es zur Abstimmung kam, hatten 16 deutsche Innenminister bereits eine klare Haltung in Übereinstimmung mit Außenminister Maas zur Aufnahme der Ortskräfte gefasst – und den Bundesinnenminister gebeten, die erforderliche Visaerteilung in Deutschland vorzunehmen. Und übrigens: Die Grünen haben – auch in Baden-Württemberg – bis zum Schluss dazu beigetragen, dass noch in einer sehr labilen Situation Menschen nach Afghanistan abgeschoben wurden. Die Afghanistan-Politik der Grünen ist konfus, wie man an ihrem Abstimmungsverhalten über den Einsatz in Afghanistan in den letzten Jahren ablesen kann.
Was lässt sich aus dem Afghanistan-Abzug für andere Bundeswehreinsätze wie insbesondere in Mali lernen?
Man kann die Erfahrungen nicht eins zu eins übertragen. Aber was doch sehr deutlich geworden ist: Wenn Partner schon wünschen, dass sich auch Deutschland an solchen Einsätzen beteiligt, sollten wir uns viel stärker um die politischen, entwicklungspolitischen und humanitären Fragen kümmern.
In Deutschland breitet sich Corona gerade wieder schnell aus. Erwarten Sie einen neuen Lockdown im Herbst, zum Beispiel nach der Bundestagswahl?
Corona ist noch nicht besiegt. Aber ich bin froh, dass wir durch das Impfen in eine neue Situation kommen. Wir werden neben der Inzidenz die Daten Hospitalisierung und andere Aspekte stärker in den Mittelpunkt rücken können.
Ihre Parteifreundin, Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, hält Unterscheidungen zwischen Geimpften und Ungeimpften verfassungsrechtlich für schwierig. Sie auch?
Ich bin sehr dankbar, dass wir eine Justizministerin haben, die die Verfassung im Blick hat. Ihre Äußerung bezieht sich auf den öffentlichen Raum. Private haben heute schon die Möglichkeit, zwischen Geimpften und Ungeimpften zu unterscheiden. Das müssen auch diejenigen wissen, die sich ganz bewusst nicht impfen lassen. Und die kostenlosen Tests, die wir als Brücke eingerichtet haben, wird es demnächst nicht mehr geben. Aber ich merke, dass mit dem Heranrollen der vierten Welle mittlerweile doch immer mehr Menschen wissen, dass das Impfen den besten Schutz bietet.
Nach der Bundestagswahl 2017 und noch einmal nach der Wahl der neuen Parteispitze war in der SPD fast so etwas wie Oppositionssehnsucht zu spüren. Hat Ihre Fraktion inzwischen mit der Bilanz der Großen Koalition ihren Frieden geschlossen?
Es ging nie um eine Oppositionssehnsucht. Dass andere die Verantwortung gescheut haben, müssen sie selbst für sich beantworten. Wir sind einen nicht ganz leichten Weg gegangen, der sich am Ende für die Menschen ausgezahlt hat.
An welcher Stelle hat man positiv gemerkt, dass die SPD mitregiert hat?
Mitregiert? Wir haben die Regierung gestaltet. Das gilt gerade in der Sozialund Arbeitsmarktpolitik. Denken Sie an die Grundrente, die Kurzarbeitsregelungen, an ein soziales Klimaschutzgesetz. Wir erleben einen elementaren Strukturbruch durch den Ausstieg nicht nur aus der Atomkraft, sondern auch aus der Kohle. Den haben wir so gut abgefedert, dass alle gesellschaftlichen Kräfte diesen Weg mitgehen.
Nach der Wahl will SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz am liebsten in einem Ampel-Bündnis mit FDP und Grünen regieren. Wieso ist es attraktiv für Sie, die Union gegen die FDP einzutauschen?
Uns geht es nicht um Koalitionsoptionen. Es geht darum, die SPD so stark wie möglich zu machen. Wir wollen die Regierung anführen. Und mit Olaf Scholz wollen wir jemanden im Kanzleramt haben, der nicht erst angelernt werden muss, sondern schon von Anfang an die richtigen Entscheidungen trifft. Das Kanzleramt ist kein Übungsraum.
FDP-Chef Christian Lindner ist äußerst skeptisch, was eine Ampel angeht. Welches Angebot können Sie ihm machen?
Zunächst haben die Wählerinnen und Wähler das Wort. Jetzt arbeite ich dafür, dass andere sich dann überlegen müssen, ob sie mit einem Kanzler Scholz Verantwortung übernehmen wollen.
Angenommen, es reicht am Wahlabend für Rot-Grün-Rot. Ist das für Sie eine realistische Alternative?
Entscheidend ist zunächst, dass die SPD so stark wird, dass Olaf Scholz Kanzler werden kann. Alles, was danach folgt, wird durch eine souveräne und sehr selbstbewusste Fraktion begleitet.